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Die Schriftleitung
Leseprobe 2
DAS THEMA: PREDIGT-RÄUME – EINE ORTSBEGEHUNG
»Loci homiletici« – Über Orte theologischer Erkenntnis und homiletischer Praxis
Die weitreichende Idee Melchior Canos

Der Renaissance-Theologe Melchior Cano (1509–1560) erfährt gegenwärtig eine große Renaissance. Der Dominikaner aus Salamanca und Konzilstheologe von Trient ging der fundamentalen Frage nach, wie wir zu theologischer Erkenntnis kommen.1 Woher haben wir eigentlich unser Wissen über den Glauben? Und wo gilt es in den vielen Zweifelsfällen des Glaubens nachzufragen, nachzuforschen und Argumente für kirchliche Entscheidungsfindungsprozesse zu sammeln? Canos Antwort ist bis heute in dreifacher Hinsicht wegweisend. Erstens: Es gibt nicht den theologischen Erkenntnisort, sondern eine Pluralität an Autoritäten und Stimmen, die es anzuhören und abzuwägen gilt. Die Antwort »Glaubenserkenntnis kommt aus der Offenbarung« ist prinzipiell richtig, aber zu einfach und zu undifferenziert. Die Heilige Schrift gilt Cano zwar als unübertreffliche norma normans, als der »Ur-Text« des Glaubens, wovon her und woraufhin sich theologische Rede zu jeder Zeit zu orientieren und zu beziehen hat. Aber auch die Schrift steht nicht solitär, sondern ist sowohl Ergebnis als auch der Ausgangspunkt eines kirchlichen Kommunikationsprozesses. Für den Reformtheologen greift das reformatorische Sola scriptura daher zu kurz, jedenfalls in der extremen Zuspitzung der Debatten seiner Zeit. Zweitens: Die von Cano benannten Orte theologischer Erkenntnis – es sind zehn an der Zahl – sind keine Reihe von Aktenordnern, in denen theologische Wahrheiten nachgeschlagen werden können. Es sind loci, Orte oder besser Räume, die wir aufsuchen und befragen können und an denen wir, wenn wir bereits ahnen, was wir suchen, möglicherweise fündig werden. Um in einer Metapher aus der Zeit Canos zu sprechen: Die loci theologici sind so etwas wie theologische Jagdgebiete. Der Jäger kennt seine Jagdgebiete von vielen Erkundungen und weiß, wo zu welcher Tageszeit vermutlich Beute anzutreffen ist. Ob er aber tatsächlich etwas findet, muss sich im Einzelfall zeigen und braucht auf alle Fälle Vorsicht und Geduld. Zurück zur theologischen Erkenntnis: Man muss also die Räume der Heiligen Schrift, der kirchlichen Tradition, der Theologiegeschichte betreten und sich mit ihnen befassen, sie gezielt befragen, damit sie zu sprechen beginnen. Drittens: Cano erkennt neben den klassischen kirchlichen Topoi wie Schrift, Tradition, Konzilien, Lehramt und Theologie (loci proprii) bereits im 16. Jahrhundert »Andersorte« – loci alieni: Es gibt ergiebige Fundorte, an denen wir die Offenbarung des christlichen Glaubens nie vermutet hätten und die uns sie doch auf fundamental wichtige Weise bezeugen und erschließen. Cano nennt hier sehr allgemein die menschliche Vernunft, die Philosophie und die Ereignisse der Geschichte.

Orientierungsmodell für den Synodalen Weg


Bei aller Zeitbedingtheit der konkreten Ausführungen wirken die drei Grundannahmen Canos nach bis in die heutige Theologie: Das Suche nach theologischer Wahrheit erweist sich als ein pluraler, interpretationsbedürftiger und grenzüberschreitender Prozess. Es war das Verdienst von Peter Hünermann, die loci-Lehre vom theologischen und vor allem ekklesiologischen Selbstverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils her zu aktualisieren.2 So betont er noch vor Bischöfen und Konzilien die Bedeutung des Volkes Gottes, also die Gemeinschaft aller Glaubenden und deren Glaubenssinn (sensus fidelium). Sie ist das Fundament und der Ausgangspunkt aller kirchlichen Autoritäten und Lehrinstanzen. Sodann weitet Hünermann vor allem die für das Verständnis des eigenen Glaubens relevanten »Andersorte« aus: Andere Religionen (besonders Judentum und Islam), aber auch der Kosmos der Wissenschaften und die Vielfalt der Kultur(en) sind nach der Pastoralkonstitution Gaudium et spes wertvolle Vermittlungsinstanzen, durch die uns die Offenbarung des in diese Welt inkarnierten Gottes erreicht.3

Auch Gregor Maria Hoffs jüngst veröffentlichter und umfangreicher erster Band einer topologischen Fundamentaltheologie4 lässt sich als ein imaginäres Gespräch mit Melchior Cano lesen, das immer neue, theologisch relevante »Andersorte« erkundet: von den wiederentdecken Schriften von Qumran, über Schreckensorte wie Hiroshima und Nagasaki, den Ground Zero in New York bis hin zu Schwarzen Löchern und der entgrenzenden Erfahrung des Weltraums. 5 Direkt an Cano anschließend schreibt Hoff: Die klassischen theologischen Loci »stehen in einem diskursiven Raum. Ihnen entsprechen andere, reale Orte, von denen her Fragen nach dem Auskunftswert von Schrift, Tradition usw. adressiert werden. Solche Orte üben einen Problemdruck auf die loci theologici aus. Sie (die loci proprii; S.W.) sind deshalb nicht als feststehende Größen zu denken, sondern stellen selbst diskursive Prozesse dar. Sie verändern ihre diskursive Position im Erweis ihrer Bedeutung, weil sie auf Anfragen und neue Informationen eingestellt werden müssen. Die Relevanz des Evangeliums lässt sich nur interpretativ darstellen. Und nur in auslegenden Glaubensperformances kann sich die Lebensmacht des Evangeliums erweisen.«6

Der Synodale Weg der deutschen Kirche, zu dessen Synodalen auch Hoff gehört, rekurriert in seiner theologischen Methodologie und seinem Selbstverständnis überraschend stark auf dieses auf den ersten Blick antiquiert klingende Modell mit kuriosem Namen. Der im Februar 2021 beschlossene theologische Orientierungstext besteht im wesentlichen (Nr. 9–63) in einer Aktualisierung der klassischen Loci-Lehre auf die Situation der deutschen Kirche hin, wobei besonders die Spannungen zwischen Schrift und Tradition(alismus), Lehramt und Theologie sowie die Bedeutung der »Zeichen der Zeit« und des »Glaubenssinns der Gläubigen« zur Sprache kommen.7 Die Intention ist ebenso naheliegend wie berechtigt: Canos erkenntnistheoretisches Modell fordert und fördert einen hermeneutischen Ansatz und führt zur praktischen Einübung einer ars disputandi. Die »alte« Lehre von den loci theologici bildet so die legitimierende Grundlage für eine theologischen Diskurskultur, wie sie die Synode anstrebt, die eine Pluralität von Argumenten und Meinungen zulässt und eine einseitige Entscheidungsmacht welcher Einzelautorität auch immer verhindert. Gleichwohl verpflichtet sich die Synode mit diesem Orientierungstext darauf, weder ein situatives Stimmungsbild noch ein demokratisches Mehrheitsvotum anzustreben, sondern eine theologische und geistliche Auseinandersetzung mit Schrift, Tradition, Geschichte – aber auch eine sorgfältige Wahrnehmung der sogenannten »Zeichen der Zeit«. Der Weg zu theologischer Erkenntnis ist nicht eindimensional – aber er ist auch nicht beliebig.

Ein besonderer locus theologicus

Als ebendieser Diskursprozess bereits in vollem Gange war, kam es zu einer unvorhergesehenen und ungewollten Fortschreibung der Loci-Lehre. Durch eine Wortmeldung Bischof Rudolf Voderholzers stand gewissermaßen ex negativo die Aussage im Raum, dass bei aller Situativität der Synode nicht etwa von einem »Lehramt der Betroffenen« gesprochen werden könne. Ungewollt war damit ein Stichwort gegeben, das offenbar einen schmerzhaften Nerv getroffen hat, so dass im Entwurf des Grundtextes Macht und Gewaltenteilung in der Kirche ausdrücklich von einem »besonderen Lehramt« der vom Missbrauch Betroffenen die Rede ist. Diese Formulierung wurde im schließlich verabschiedeten Text verändert zu: »Ihr Schrei ist ein besonderer Locus theologicus für unsere Zeit.«8 Es war wiederum Gregor M. Hoff, der scharfsinnig darauf hingewiesen hat, dass diese nunmehr konsensfähige Änderung fundamentaltheologisch gesehen keine Abmilderung, sondern sogar eine Verschärfung darstellt. Denn nun ist die Stimme der vom Missbrauch Betroffenen keinem bestehenden locus theologicus – dem Lehramt – ein- oder zugeordnet, sondern stellt einen Referenzort sui generis dar.9 Diese theologischen Überlegungen mögen angesichts der Realität, um die es hier geht, etwas sophistisch klingen. Es geht jedoch – anhand eines zugegeben dramatischen Falles – an dieser Stelle darum zu zeigen, welche Aktualität und welche Theoriekraft die theologische Intuition Melchior Canos bis in die Gegenwart hinein entwickeln kann.

Predigt als locus theologicus


Das Anliegen dieses Beitrages ist nicht nur, auf die erkenntnistheoretische Bedeutung und Aktualität der loci theologici hinzuweisen, sondern in einem zweiten Schritt eine Verbindung zur Homiletik herzustellen und die Frage aufzuwerfen, was eigentlich die Erkenntnisorte – die »Jagdgebiete« – eines Predigers und einer Predigerin sind.

Die erste Verbindungslinie liegt auf der Hand: Theologiegeschichtlich dürfen Predigt und Verkündigung selbst als ein Ort theologischer Erkenntnis betrachtet werden. Wenn Melchior Cano an sechster Position seines Referenzsystems die auctoritas sanctorum veterum – die Autorität der »alten Heiligen« – anführt, darf daran erinnert werden, dass sich die Theologie der patristischen Zeit zu einem wesentlichen Teil aus Homilien und Sermones sowie aus mystagogischen und katechetischen Schriften speist. Die sich in der frühe Predigtkultur manifestierende Sapientia christiana10 wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil neu ins Licht der theologischen Aufmerksamkeit gehoben.11

Angesichts dieser traditionellen Einheit von Theologie und Verkündigung stellt sich die Frage, wo und unter welchen Umständen Predigt – eingebunden in das Ganze der Liturgie12 – heute als ein pragmatischer Topos theologischer Erkenntnis auftritt. Sofern die loci theologici in Canos Intention ein großes Diskurs- und Interpretationsnetz bilden, wäre es die Aufgabe der Predigt, die Texte der Schrift, die theologische und geistliche Tradition, die Glaubenslehre der Kirche, die Zeichen der Zeit und vieles mehr auf eine kreative Weise aufzunehmen und miteinander ins Gespräch zu bringen, so dass im Akt der Verkündigung in der Kirche ein lebendiger und sich stetig aktualisierender locus theologicus existiert. Fabian Brand spricht davon, dass Predigt an der Produktion eines neuen Raumes beteiligt sei: »Es geht darum, die ›Verlinkung‹ zwischen Universalität und Partikularität herzustellen, die Verknüpfung zwischen damals und heute, zwischen einem sehr allgemeinen Text und einem ganz konkreten Leben.«13 Sofern alle Quell- und Erkenntnisorte in einem inneren Zusammenhang stehen, sei besonders auf das Wechselverhältnis zwischen Predigt und sensus fidelium aufmerksam gemacht. Denn wo sonst könnte so unmittelbar und so passgenau die Glaubens- und Lebenssituation einer bestimmten Ortsgemeinde, ihre »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst« (Gaudium et spes 1), ihre Glaubenssuche und ihre Zweifelsgeschichte einen Raum bekommen? Und wo sonst wird der theologisch so hochgeschätzte Glaubenssinn der Gläubigen sich tatsächlich »formen« und Gestalt annehmen, wenn nicht in der gemeinschaftliche Feier des Glaubens und in Momenten der Verkündigung, in denen es gelingt, einen theologischen Akzent, einen geistlichen Impuls, einen wirklichen Denk- und Glaubensanstoß zu setzen. Insofern ist die Predigt in besonderer Weise dazu geeignet und gerufen, die anderen Loci der Kirche zu erschließen und zu aktualisieren.

Fundorte der Predigt

Damit ist die zweite, umgekehrte Verbindungslinie genannt: Könnte die derzeit für die Kirche neu entdeckte und fruchtbar gemachte Loci-Lehre auch ein Impuls für die Predigtpraxis sein? Einfacher gefragt: Was sind die Fundorte homiletischer Praxis? Woher hat der Prediger, die Predigerin seine, ihre Inspiration? Die leitende Intuition ist im Folgenden, dass die Orte theologischer Glaubenserkenntnis mit den Quellen der Verkündigung konvergieren.

Eine schlichte und doch weiterführende Spur legt die »Grundordnung des Römischen Messbuchs«: Die Homilie, so heißt es dort, »soll einen Gesichtspunkt aus den Lesungen der Heiligen Schrift oder aus einem anderen Text des Ordinariums oder des Propriums der Tagesmesse darlegen – unter Berücksichtigung des Mysteriums, das gefeiert wird, und der besonderen Erfordernisse der Hörer.«14 Damit sind bereits drei loci homiletici benannt: Die Schrift, das in der Liturgie gefeierte Mysterium und die Erfordernisse der Hörerinnen und Hörer. Was für die Theologie insgesamt gilt, gilt auch für die Predigt: Die Heilige Schrift ist die norma normans non normata. Die Aufgabe der Verkündigung ist nicht, ein »Thema« zu bearbeiten, sondern die Schrift auszulegen. Die Texte der Bibel selbst öffnen einen unauslotbaren und vielschichtigen Resonanzraum, in dem uns die Glaubenserfahrungen von Jahrhunderten erreichen. Es werden daher immer nur einige Anklänge sein können, die im Moment der Verkündigung an unsere Zeit und in unseren Gottesdienstraum heranreichen. Bezeichnenderweise werden uns durch die Leseordnung in jeder Feier gleich mehrere Bibeltexte aus dem Alten und Neuen Testament angeboten, die bereits untereinander in einem Dialog stehen. Die Pluralität der Stimmen, die den Ruf des einen Wortes des lebendigen Gottes beinhalten, ist also bereits in der Liturgie angelegt. Der Prediger soll diese Schrift(en) zunächst in seinen eigenen »Innenraum« aufnehmen, sie klug befragen, um aus ihnen heraus ein Gespräch zu beginnen, das er dann im Moment der Verkündigung zur Sprache bringt. Dies gelingt erfahrungsgemäß am besten im vorausgehenden Wechselschritt von exegetischer Vertiefung15 und betender Annäherung an die Texte.

Manchmal kann die eigenen Schriftauslegung auch ein diachrones Gespräch mit der Schriftauslegung früherer Jahrhunderte beginnen. Die aus heutiger historisch-kritischer Perspektive bisweilen angefragte »allegorische« Schriftauslegung der Kirchenväter – der sanctorum veterum – kann im Bereich der Verkündigung bisweilen zu einem interessanten locus homileticus werden. Es ist überraschend, zu welch kreativen, geradezu kühnen Assoziationsketten etwa ein Augustinus oder Johannes Chrysostomus kommen, die wiederum im Prediger einen Gedanken anregen, der in die gegenwärtige Zeit hineinsprechen.16 Genau in dieser Spur will sich übrigens auch die vorliegende Predigtzeitschrift Der Prediger und Katechet verstanden wissen: als eine inzwischen bereits gut 160 Jahre währende Dokumentation von Predigtgeschichte; vor allem aber als ein locus homileticus, bei dem Predigerinnen und Prediger Anregungen und Anknüpfungspunkte finden, die ihnen zu denken geben, ihre eigene Kreativität anregen und Gedanken evozieren, die dann für die je eigene Verkündigungssituation und die je eigenen Gottesdienstgemeinde passen. Es geht also weniger um »fertige« Predigten als um eine homiletische Fundgrube für die »Fertigung« in der eigenen Predigtwerkstatt.

Ortsbezug und Lebensbezug


Neben der Heiligen Schrift ist den sogenannten »Zeichen der Zeit« eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die es nach der Lehre der Kirche »im Licht des Evangeliums zu deuten« gilt (Gaudium et spes 4). So wenig konkret dieser vom Zweiten Vatikanischen Konzil betonte locus theologicus bisweilen scheint, so deutlich wird er im Praxisbezug der Predigt. Ein gelungenes Verkündigungsgeschehen entsteht aus dem Hören und aus dem Dialog mit Menschen. Es muss nachdenklich stimmen, wenn in dem gerade publizierten Arbeitsdokument des weltweiten Synodalen Prozesses allgemein die Qualität der Predigten problematisiert wird – genauer »die Distanz zwischen der Predigt und der Schönheit des Glaubens und Konkretheit des Lebens«. Gewünscht werden – so eine stellvertretende Stimme aus der maronitischen Kirche – »tiefergehende Predigten, die auf das Evangelium und die Lesungen des Tages ausgerichtet sind und […] die einen Bezug zum Leben der Gläubigen haben«17. So vorsichtig man mit buchstäblich »globalen« Aussagen sein muss: Schriftbezug und Ortsbezug, Evangelium und Situation – das scheint die grundlegende Verbindung zu sein, die eine Predigt spannungsvoll und damit auch spannend macht.

Ohne in einen politischen Diskurs zu gleiten – davor wird im genannten synodalen Dokument ebenfalls gewarnt –, kann und soll Predigt konkrete Ereignisse im Leben einer Gemeinde, eines Bistums, einer Ortskirche nicht ausblenden. Die Schwierigkeit mit dem Topos »Zeichen der Zeit« liegt wohl darin, dass zu wenig beachtet wird, dass es sich ja keineswegs nur um Heilszeichen handelt, die uns zu denken geben: »Sie können zugleich auf Heilvolles wie Unheilvolles hinweisen«, so wiederum der Orientierungstext des deutschen Synodalen Weges. 18 Eine Predigt, die über krisenhafte Phänomene, Ärger und Wut, über politische und kirchliche Zustände, Ratlosigkeit und Zukunftsangst mit salbungsvollen Worten hinweggeht, verliert ihre Aussagekraft und, schlimmer noch, den Bezug zum Leben der Menschen. Hier nicht nur die richtigen Worte, sondern auch das richtige Maß zu finden, zu spüren, ob es (noch und schon wieder) an der Zeit ist, über Corona, Missbrauchsskandale, Gemeindezusammenlegungen etc. zu sprechen und darin die biblischen Texte wirklich auszulegen und nicht umzubiegen, ist die große homiletische Anforderung und braucht viel abwägenden Dialog mit der Vielfalt der loci homiletici – und nicht zuletzt mit menschlichen Gesprächspartnern.

Neben der konkreten Situation der Menschen und ihrem »Glaubenssinn« spielt auch der Glaubenssinn des Predigers, der Predigerin selbst eine große Rolle. Der eigenen Erfahrungen im Glauben sind als locus homileticus sicher behutsam, niemals ungefiltert und unreflektiert ins Wort zu bringen. Vielfach wurde in homiletischen Studien auf den schmalen, aber wichtigen Grat zwischen Persönlichem und Privatem, zwischen glaubens-hoffnungs-vermittelnden Narrationen und peinlichen Anekdoten hingewiesen.19 Nicht weniger gilt aber: Eine Predigt muss nicht nur in der Lebenswelt der Hörerinnen und Hörer verortet sein, sondern auch in der Erfahrung und Persönlichkeit des Predigenden.

Andersorte

Zum Abschluss dieser Ortsbegehung ist über die loci alieni als Erkenntnisorte der Predigt zu sprechen. Was aber, so muss gleich gefragt werden, könnte für eine Predigerin, einen Prediger nicht zum Fundort für die Verkündigung werden? Wer mit dem Schrifttext im Ohr und mit offenen Augen durch die Welt geht, wird jene Lebenswirklichkeiten wiederfinden, von denen die Bibel spricht. Wer interessiert nach Gottes-Zeichen, Hoffnungs-Zeichen in dieser Welt sucht, wird sie an unerwarteten Orten finden: auf der Straße und im Zug, in der Zeitung, im Film, in der Literatur und im zufälligen Wort, in der sogenannten »Hochkultur« sowie im Tagesgeschehen und in Alltagsgegenständen. Sicher, man wird auch auf manche »befremdlichen« Vorgänge in unserer Welt treffen, die eine Predigt prophetisch-kritisch ins Wort zu bringen weiß. Im Allgemeinen aber wird es gut sein, das in der Geschichte der Verkündigung leider zu häufig bemühte Abgrenzungsschema zu überwinden, bei dem zuerst ein dunkles Gesellschaftsbild gemalt wurde, um das Wort Gottes dann umso leuchtender in die Welt fallen zu lassen. Gerade im Blick auf die loci alieni – im Blick auf Andersdenkende, Anders- und Nichtglaubende, auf bislang Fremdes und Neues in Kirche und Welt – wäre zunächst einmal auszuloten, wie weit wir mit einer Hermeneutik der Fremdprophetie kommen, bevor wir die Hermeneutik des Verdachts anlegen.

Einander ins Bild setzen, so lautet der Titel eines neueren homiletischen Konzeptes. 20 Mit diesem Stichwort ist die Kernaufgabe von Predigt angesprochen, sich und einander in die Worte, Geschichten und Bilder der Bibel zu (ver-)setzen und die Texte der Heiligen Schrift mit den Lebensrealitäten und Lebensorten der Gegenwart zu verbinden. Einander Raum schaffen, so möchte ich dieses Konzept ergänzen: vom »Sitz im Leben« der Heiligen Schrift zu den Menschen vor Ort, von den lokalen Ereignissen zurück zur Welt und Umwelt der Bibel.

Angesichts der Pluralität von Orten, an denen und von denen her wir predigen, besteht der Verkündigungsdienst heute wohl zuvorderst im glaubenden Aushalten und hoffenden Offenhalten von Ambiguitäten, denen wir sowohl in der Gegenwart als auch über die Zeiten hinweg begegnen. Predigt muss keine Harmonie stiften, muss keine Eindeutigkeit herstellen, sondern sie darf Räume schaffen, Horizonte weiten, Abwägungen zulassen, Interpretationen ermöglichen und so in den Freiheitsraum des Glaubens führen.

Melchior Canos loci-Lehre verwies die Theologie an der Schwelle zur Neuzeit auf die Pluralität ihrer Orte und Autoritäten, ohne sie jedoch in Beliebigkeit und Orientierungslosigkeit zu entlassen. Das ist der Grund, warum diese hermeneutische Theorie aus dem 16. Jahrhundert gegenwärtig neu rezipiert wird. Der homiletische Transfer und die Vermessung einiger homiletischer Erkenntnisorte sollten zeigen, dass Prediger und Predigerinnen nicht vor den unvermeidlichen Spannungen zwischen Bibeltexten, Glaubenserfahrungen, Kirchensituationen und Hör-Erwartungen zu kapitulieren brauchen, sondern dass sie Sonntag für Sonntag vor einer im wahrsten Sinne spannenden Aufgabe stehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Boris Hogenmüller, Melchioris Cani de locis theologicis libri duodecim. Studien zu Autor und Werk, Baden-Baden 2018; Bernhard Körner, Orte des Glaubens – loci theologici. Studien zur theologischen Erkenntnislehre, Würzburg 2014.
2 Vgl. Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube, Überlieferung, Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003, bes. 207–251.
3 Vgl. ebd., 230. Vgl. zur aktuellen Auseinandersetzung mit der Loci-Lehre auch: Martin Kirschner (Hg.), Dialog und Konflikt. Erkundungen zu Orten theologischer Erkenntnis, Ostfildern 22017.
4 Gregor M. Hoff, Glaubensräume Bd. II/1: Topologische Fundamentaltheologie 1. Der theologische Raum der Gründe, Ostfildern 2021. Vgl. explizit zu Cano ebd., 60, 132–135, 143, 481f., 493 u. ö.
5 Vgl. ebd., 247–250, 285–290, 407–410.
6 Ebd. 134. Herv. i. O.
7 Vgl. Orientierungstext »Auf dem Weg der Umkehr und der Erneuerung. Theologische Grundlagen des Synodalen Weges der katholischen Kirche in Deutschland« (Der Synodale Weg Nr. 2), Bonn 2022 (https://www.synodalerweg.de/beschluesse).
8 Grundtext »Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – Gemeinsame Teilnahme und Teilhabe am Sendungsauftrag (Der Synodale Weg Nr. 3), Bonn 2022, Nr. 43. Herv. i. O. Alle Beschlusstexte der Synode finden sich unter: https://www.synodalerweg.de/beschluesse. Vgl. Julia Knop, Die Autorität der Verletzen, in: Sophie v. Kalckreuth – Jörg Seiler (Hg.): Wegtexturen. Notizen aus der Erfurter Theologie zur »Stimme derer, die vom kirchlichen Machtmissbrauch betroffen waren und sind« (https://www.uni-erfurt.de/katholisch-theologischefakultaet/ fakultaet/aktuelles/theoloie-aktuell/wegtexturen), 2.
9 Vgl. Gregor M. Hoff, Der Stimme der Betroffenen kann die Kirche nicht ausweichen (https:// www.katholisch.de/artikel/33026-der-stimme-der-betroffenen-kann-die-kirche-nicht-ausweichen).
10 Vgl. Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre (s. Anm. 2), 99–115, 217f.
11 Vgl. Dei verbum, 23; Optatam totius, 16; Presbyterium ordinis, 19.
12 Hünermann sieht auch in der Liturgie einen locus theologicus proprius. Vgl. Ders., Dogmatische Prinzipienlehre (s. Anm. 2), 212–214. Vgl. auch: Julia Knop, Ecclesia Orans. Liturgie als Herausforderung für die Dogmatik, Freiburg i. Br. 2012, 198–208.
13 Vgl. Fabian Brand, Worte und Orte. Vom topologischen Gehalt der Verkündigung, in: Der Prediger und Katechet 162 (2023), H. 1, 124–131, hier: 128.
14 Grundordnung des römischen Messbuchs (GORM), Nr. 65.
15 Gute Hilfsdienste leisten dazu etwa: www.perikopen.de sowie: www.in-principio.de
16 Vgl. als praktischer Zugang etwa Thomas von Aquin, Catena aurea. Kommentar zu den Evangelien im Jahreskreis, hrsg. von M. Schlosser und F. Kolbinger, St. Ottilien 22012; vgl. dazu auch die Homepage: www.catena-aurea.de
17 »Mach den Raum deines Zeltes weit« (Jes 43,2). Arbeitsdokument für die kontinentale Phase, 24. Oktober 2022 (https://www.dbk.de/themen/bischofssynoden/bischofssynode-synodalekirche- 2021–2024), Nr. 93.
18 Vgl. Orientierungstext (s. Anm. 7), Nr. 39.
19 Vgl. ebenso ausführlich wie kritisch: Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Stuttgart 32020, 37–121.
20 Vgl. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 22005, bes. 65–72.

Stefan Walser

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