Der Prediger und Katechet – Startseite
Startseite » Aktuelle Ausgabe » Leseprobe 2
Titelcover der aktuelle Ausgabe 3/2024 – klicken Sie für eine größere Ansicht
Die Schriftleitung
Leseprobe 2
DAS THEMA: GERECHT PREDIGEN
Allen alles werden?
Über die (Un-)Möglichkeit, bei der Predigt den Zuhörenden gerecht zu werden
»Wer bin ich, wenn ich predige? Wer bin ich, wenn ich Christus verkündige?« Paulus, wortgewandter Verkündiger und leidenschaftlicher Briefeschreiber, reflektiert diese Fragen im Gespräch mit den Glaubenden in Korinth. Er nimmt für seine Missionsarbeit selbstbewusst seine solidarische Zugehörigkeit zu den unterschiedlichen Gruppen wahr: Für die Juden sei er ein Jude, für die Gesetzlosen ein Gesetzloser, für die Schwachen ein Schwacher. Und er schließt dann: »Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten.« (1 Kor 9,22)

Was für ein Anspruch …

Allen alles werden? Was für ein Anspruch an christliche Verkündigung ist das?! Wenn das Evangelium eine frohe Botschaft für alle ist, die christliche Glaubensgemeinschaft die Grenzen eines abgeschotteten Zirkels besonders Erleuchteter sprengt und die esoterische Sekte seit urchristlichen Zeiten kein Modell für die christliche Kirche ist: Wie ist es möglich, den Zuhörenden in ihrer Unterschiedlichkeit gerecht zu werden? Wie kann es in der Predigt gelingen, den vielfältigen religiösen Biografien und Erfahrungen der Menschen zu entsprechen, die im Gottesdienst versammelt sind?

Das Nachdenken über diese Fragen ist für mich mit der Auskunft über meine eigene Predigtpraxis, meine Ansprüche und Grenzerfahrungen verbunden. Ob ich damit Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, und Ihren Predigterfahrungen und Verkündigungsnöten gerecht werde, kann ich nicht wissen. Ich weiß nicht, ob Sie seit Jahrzehnten mit der Verkündigung betraut und des sonntäglichen Predigens müde geworden sind; ob Ihnen die Bibeltexte fremd, verstörend, gleichgültig oder frisch wie am ersten Tag sind; ob Sie mit den Menschen, die Ihnen zuhören, vertraut sind oder ob Sie unter den Bedingungen riesiger pastoraler Räume immer vor fremden Gesichtern reden; ob Sie diesen Artikel bewusst ausgewählt oder zufällig angefangen haben und bis jetzt dabeigeblieben sind. Was gibt mir den Mut, angesichts dieser offenen Fragen, was Ihr Interesse ist und ob ich Ihnen mit meinen Überlegungen gerecht werden kann, etwas Hilfreiches zu einer empfängergerechten Verkündigung aufs Papier zu bringen? Ist es die Ermutigung des PuK-Redaktionsteams, das mir diesen Beitrag zutraut?

Ist es die kirchliche Beauftragung zur Verkündigung der frohen Botschaft und damit zur Reflexion meiner Predigtpraxis? Ist es in der Spur des Paulus das gläubige Selbstbewusstsein, dass ich in der Nachfolge Jesu etwas zu sagen habe, was anderen zum Leben und zum Glauben dient? Ist es vielleicht von allem etwas?

Der Diversität entsprechen

Ich bin seit fast vier Jahren Pfarrer in der Gemeinde Heilig Kreuz, einer Münsteraner Stadtpfarrei. Auf den ersten Blick scheint die Gruppe der Menschen, die sonntags den Gottesdienst mitfeiern, weitgehend homogen zu sein: Die überwiegende Zahl der Zuhörenden ist mehr als 60 Jahre alt, von deutscher Nationalität, viele sind kulturell interessiert, bürgerlich engagiert und der Kirchengemeinde mit kritischem Wohlwollen verbunden. Es gibt einige Familien, kaum Jugendliche, viele Alleinstehende. Alle sind da, weil sie wollen, nicht weil sie müssen. Was suchen sie? Die pensionierte Sozialarbeiterin, die um ihren verstorbenen Bruder trauert; die Lehrerin, die nach einer leidvollen Trennung das Glück einer neuen Partnerschaft wagt; der Arzt, der sich nach einer übervollen Arbeitswoche einfach freut, mit anderen Menschen beten und singen zu können; die betagte Frau, für die ein Sonntag ohne Messe nicht vorstellbar ist; das Ehepaar, das tapfer die Erkrankung des einen Partners trägt; der Jugendliche, der zum Ministrieren aufgestellt und noch müde von der gestrigen Party ist; der politisch Engagierte, für den das Flüchtlingselend an den europäischen Grenzen ein himmelschreiender Skandal ist; das junge Paar, bei dem sie als Katholikin ihren eher kirchenfremden Partner zum gemeinsamen Messbesuch motiviert: Mit welchen Erwartungen, Schmerzen und Hoffnungen sind sie hier? Und wie entspreche ich ihnen in ihrer – hier etwas schematisch gezeichneten – Unterschiedlichkeit? Wie werde ich ihnen gerecht? Selbst wenn ich die Lebenswelten vieler Menschen, die mir zuhören, nur ahnen kann, hilft es mir bei der Predigtvorbereitung, sie mir vorzustellen, so konkret wie möglich, und mich zu fragen: »Wem sage ich das? Und wie mag das bei ihm ankommen und in ihr wirken?«

Wie die Predigt Jesu wirkt

Bei der Frage, ob und wie ich den Zuhörenden gerecht werden kann, hilft mir der Blick auf die Verkündigung Jesu. Wenn in der Bibel von der Predigt Jesu die Rede ist, geht es zunächst um das Wie seiner Verkündigung. Grundlegend ist die Wahrnehmung: »… denn er lehrte sie mit Vollmacht.« Damit wird in den synoptischen Evangelien ein wesentlicher Unterschied zur Lehrtätigkeit anderer Religionsführer markiert: Jesus verkündet »nicht wie ihre Schriftgelehrten« (Mt 7,29), sondern mit einer anderen Energie. Die Glaubwürdigkeit und Autorität des Handwerkers aus Nazaret gründen in seiner Person. Von ihm geht in Wort und Tat eine Kraft aus, der sich die Zuhörenden anvertrauen, die ihr Leben heilsam verändert und die sie nach den Quellen dieser Autorität fragen lässt: »Woher hat er das alles?« (Mk 6,2) Im Johannesevangelium wird wie in einem wiederkehrenden Refrain die Beziehung Jesu zum Vater als Grund seiner Vollmacht zur Sprache gebracht und ihm in den Mund gelegt: »Die Worte, die ich zu euch sage, habe ich nicht aus mir selbst. Der Vater, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke. Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist.« (Joh 14,10 f.) Alles, was von Jesus ausgeht, was sich auf das Leben der Zuhörenden auswirkt, was sie bereichert, ermutigt, stärkt, begeistert oder verstört, gründet für ihn in seinem »Eins-Sein« mit dem Vater (vgl. Joh 17,20–26).

Kennzeichnend für die Verkündigung Jesu scheint es ferner zu sein, dass er die Lebenswelt seiner Mitmenschen mit seiner Gotteserfahrung zusammenbringen und zur Sprache bringen kann. Jesus für Kleinbauern lautet dementsprechend der Titel eines Predigtbuches von Reinhard Körner, in dem der Karmelit die Verkündigung Jesu in der ländlichen Welt der zuhörenden Kleinbauern verortet. Der Zimmermannssohn Jesus nimmt die Erfahrungen der Arbeitenden vom Säen und Ernten, von Fischfang und Weinbau, vom Haushalten und Viehhüten auf und zeigt durch sie Bilder vom anbrechenden Reich Gottes. Indem er mit der Alltagswirklichkeit der sogenannten »einfachen Leute« vertraut ist, wird es ihm möglich, einerseits das Geheimnis des anbrechenden Gottesreiches anschaulich werden zu lassen und andererseits die Erfahrungen der Zuhörenden überraschend zu wenden und kontrastreich zu weiten: Ein Schaf suchen und neunundneunzig allein lassen? Mit dem kostbaren Saatgut so nachlässig umgehen, dass es in die Dornen oder auf den Weg fällt? Das Unkraut bis zur Ernte wachsen lassen? Wie verrückt ist das denn?

Das Verrückte, Ungewohnte, Herausfordernde der Predigt bewirkt bei den Zuhörenden teils staunende Zustimmung, teils entschiedene Ablehnung. Diese Ambivalenz der Reaktionen wird in den Evangelien aufmerksam wahrgenommen und beschrieben. Menschen geraten außer sich und preisen Gott (Mk 2,12; 7,37); sie kommen ins Fragen (Mk 9,10), staunen (Mk 12,17), sind betroffen (Mt 7,28) und wundern sich (Mk 10,32), so dass selbst vermeintlich Unbeteiligte fasziniert sind: »Noch nie hat ein Mensch so gesprochen!« (Joh 7,48) Offenbar erfahren sie in der Begegnung mit Jesus etwas, das sie in die Gegenwart Gottes und zu einem erneuerten Selbstverständnis führt: »Sie erschraken und priesen Gott, dass er den Menschen solche Vollmacht gegeben hat.« (Mt 9,8) Zugleich kann das Herausfordernd-Befremdliche der Worte und Taten Jesu zu einem nachdenklichen Verstummen (Mk 12,34), zu Unverständnis (Joh 16,18), Ablehnung (Mt 13,57), offenem Widerspruch oder zum Abbruch der Kommunikation führen – und zwar von beiden Seiten: »Jesus ließ sie stehen und ging weg.« (Mt 16,4; 21,17) »Als sie das hörten, waren sie sehr überrascht, wandten sich um und gingen weg.« (Mt 22,22)

Grenzerfahrungen

In der Spur der Predigtpraxis Jesu ist daher mit Zustimmung und Ablehnung zu rechnen. Der Prediger Paulus wird – nach Auskunft der Apostelgeschichte – auf dem Areopag in Athen mit dieser Wirklichkeit konfrontiert. Sprachgewandt knüpft er seine Christus-Verkündigung an die Beobachtungen der Religionspraxis Athens an, lässt sich auf die philosophische Welt seiner Zuhörerschaft ein und scheint damit zunächst auf offene Ohren und bereite Herzen zu stoßen. Als er aber von der Auferstehung der Toten zu sprechen beginnt, erntet er Spott und ein freundlich-desinteressiertes Abwinken – »Darüber wollen wir dich ein andermal hören« (Apg 17,32) – so dass er den Areopag mit einer abgebrochenen Predigt und einer mäßigen Resonanz verlassen muss. Immerhin: Damaris, Dionysus und einige andere schließen sich ihm an und werden gläubig (Apg 17,33 f.). Ähnlich spiegelt sich diese Unterschiedlichkeit der Predigtwirkung und die Erfahrung der Vergeblichkeit in den paulinischen Briefen wider. An Timotheus, den Vorsteher der Gemeinde in Ephesus schreibt er: »Verkünde das Wort, tritt auf, ob gelegen oder ungelegen, überführe, weise zurecht, ermahne, in aller Geduld und Belehrung!« (2 Tim 4,2) Sich auf die konkrete Situation einzulassen, hat für Paulus zur Folge, wach mit der Ambivalenz menschlicher Reaktionen und der ihnen zugrundliegenden Wünsche umzugehen. Wo Menschen nach einer Verkündigung suchen, »um sich die Ohren zu kitzeln« und von ansprechenden »Fabeleien« faszinieren zu lassen, erscheint es Paulus wichtig, jenseits einer auf bloße Zustimmung bedachten Predigt auf die Treue zum Evangelium zu achten: »Sei in allem nüchtern, ertrage das Leiden, verrichte dein Werk als Verkünder des Evangeliums, erfülle treu deinen Dienst!« (2 Tim 4,3–5) Mit dem »Allen alles werden« ist für den wortgewaltigen Paulus die Erfahrung von Machtlosigkeit verbunden: dass sich »einige« (1 Kor 9,22) auf seine Botschaft einlassen können und wollen, andere – warum auch immer – nicht.

Konsequenzen für die eigene Predigtpraxis

Was bedeutet der skizzierte biblische Befund – die Verkündigung Jesu und die paulinischen Erfahrungen – für meine eigene Predigtpraxis? Zunächst wird mir die Bedeutung meiner eigenen Person deutlich. Das deutsche Wort »Person« kommt vom lateinischen personare: »hindurchscheinen«. Was sich durch mich vermittelt, was durch mich in meiner Verkündigung zum Vorschein und Ausdruck kommt, hängt wesentlich mit mir und meiner Glaubensgeschichte zusammen. In meiner Predigt spiegelt sich – ob ich will oder nicht – wider, ob und wie ich bete, mit welcher Verspannung und Verschrobenheit, welcher inneren Freiheit und Gelassenheit, welcher Ängstlichkeit oder Zugewandtheit ich da bin. Ich bin verwiesen und stehe in Resonanz zu einer mir vorgängigen Wirklichkeit, die sich in der Einzigartigkeit meiner Person ausdrückt. Kirchenrecht lich kommt das zum Ausdruck in der formalen Beauftragung zur Bezeugung des Evangeliums – sei es durch die Taufe, die Weihe oder eine andere Form der Beauftragung; liturgisch drückt sich die von Gott kommende »Vollmacht« darin aus, dass Predigt und Glaubenszeugnis in einem gottesdienstlichen Kontext stattfinden und vom persönlichen wie vom gemeinschaftlichen Gebet getragen sind.

Authentisch zu verkündigen bedeutet für mich, um meine Stärken und Schwächen zu wissen, meine Lieblingsthemen und Vermeidungsstrategien zu kennen, in einem lebendigen, oftmals spannungsvollen Kontakt mit der biblischen Botschaft zu leben und in allem der kühnen Hoffnung Raum zu geben, dass der lebendige Gott durch mich tatsächlich etwas zu sagen hat. Mit dieser Annahme gehe ich demütig, mit zitternden Knien und einem eigenartigen Selbstbewusstsein in das Kommunikationsgeschehen Predigt hinein. Auch wenn ich bei der Predigt allein spreche, befinde ich mich in einem Dialog. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ich zu interessierten oder gleichgültigen, vielen oder wenigen, vorwiegend alten oder mehrheitlich jungen, mir vertrauten oder mir fremden, nahe sitzenden oder fern stehenden Menschen spreche. Was von meinen Worten und von dem, was ich zwischen den Worten sage, in den Zuhörenden mit ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten und Glaubensbiografien wirkt, was Zustimmung ermöglicht oder Ablehnung hervorruft, was im Herzen anspricht oder gleichgültig verhallt, ist mir selbst nur teilweise zugänglich und bleibt mir im Letzten verborgen. Entscheidend für meine »gerechte Predigt« erscheint mir, dass ich mich je neu auf das Abenteuer einlasse und offen und aufmerksam bin für die Resonanzen, die ich in nachfolgenden Gesprächen wahrnehmen kann.

Die Botschaft des Evangeliums


Was es inhaltlich bedeutet, auf das Evangelium Jesu Christi bezogen zu sein und darin den Zuhörenden gerecht zu werden, wird für mich in einem grundlegenden Satz des Großen Glaubensbekenntnisses deutlich: »Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen (propter nos homines et propter nostram salutem descendit de caelis, et incarnatus est).« Das Ziel der Inkarnation ist laut der Botschaft des christlichen Credos das Heilwerden der Menschen und mit ihnen verbunden der ganzen Schöpfung. Es geht um eine Wirkung: verändernd, befreiend, bestärkend. In der Spur Jesu und in Verbundenheit mit ihm zu predigen, bedeutet für mich daher, Menschen zu ermutigen, in einer weltzugewandten Frömmigkeit zu bestärken, zu einem lebendigen, eigenständigen Umgang mit dem Wort Gottes beizutragen, neue Wege zum Geheimnis Gottes zu eröffnen – und in alledem zugleich ihnen wie dem Evangelium Jesu Christi gerecht zu werden. Ich tue das, indem ich die Schrift ernst nehme, mich mit ihr auseinandersetze, sie in mein Leben hinein höre, mich mit meinen Abneigungen, subtilen Feindbildern und immer Einspruch erhebenden »Aber-Geistern« kritisch auseinandersetze, danach suche, wie ich das Evangelium heilend hören und verstehen kann. Ich versuche, meine Fragen zur Sprache zu bringen, die Spannungen, die ich wahrnehme, zu benennen und die biblische Botschaft immer wieder und immer neu in die persönliche, gesellschaftliche und kirchliche Wirklichkeit hineinzuhören. Schließlich erlebe ich es als einen unermesslichen Schatz, dass ich gemeinsam mit anderen in diesem Entdeckungs- und Tradierungsprozess stehe, und freue mich an den Gedankengängen und Wortfindungen anderer Glaubender. Ich bin zum Glück hineingestellt in eine Gemeinschaft von vielen Frauen und Männern, die im Hören auf das Evangelium Jesu Christi heilend, tröstend und ermutigend etwas zu sagen haben. So bin und bleibe ich in meiner Verkündigung Hörender und Teil einer Glaubensgemeinschaft, die darauf vertrauen kann, dass ihr das Wort Gottes gerecht wird, und zwar in einer Weise, der sie – empfangend und weitergebend – immer nur anfanghaft auf die Spur kommen kann.

Siegfried Kleymann

Zurück zur Startseite

pastoral.de


Das bewährte
BasisProgramm
auf CD-ROM


pastoral.de - BasisProgramm

oder

Die
Web-Plattform
im Browser


pastoral.de - Web-Plattform

Vergleichen Sie hier


Der Prediger und Katechet
Telefon: +49 (0) 711 44 06-140 · Fax: +49 (0) 711 44 06-138
Senefelderstraße 12 · D-73760 Ostfildern
Kontakt | AGB | Datenschutz | Impressum