Der Prediger und Katechet – Startseite
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Die Schriftleitung
Leseprobe 2
Das Thema: Mitten im Alltag
Meine Helden: Vorbilder des Glaubens für den Alltag (I)
Vorbemerkung der Redaktion:
Die Botschaft des christlichen Glauben mitten im Alltag mit all seinen Herausforderungen und Unsicherheiten zu erschließen, dafür steht nicht nur die immer neue Orientierung an der vielstimmigen Heiligen Schrift, wie es die Werktagspredigten in diesem Prediger und Katechet-Jahrgang zu akzentuieren suchen (vgl. die »Das Thema«-Beiträge von Paul Deselaers und Ansgar Wucherpfennig in Heft 1 bzw. 2 des Jahrgangs). Auch die Orientierung am Glaubenszeugnis konkreter Personen und ihrer Lebensgeschichten kann zum Christsein im Alltag ermutigen – wie es ja auch die Feste und Gedenktage der Heiligen immer wieder vor Augen stellen. – Der langjährige Osnabrücker Generalvikar Theo Paul hat für Der Prediger und Katechet eine Auswahl entsprechender Porträts zusammengestellt: Glaubenszeugen, die für ihn ganz persönlich solche »Alltags-Helden« geworden sind. Auf ihre Weise können diese Porträts ebenfalls als Werktags-Homilien dienen.

Franz Jägerstätter
»Der Gläubige ist grundsätzlich ein ›Erinnerungsmensch‹«, so stellt Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium fest (EG 13). Ich möchte gerne an den Märtyrer und einfachen Landwirt und Familienvater Franz Jägerstätter erinnern, der für mich ein beeindruckendes Vorbild des Glaubens in den konkreten Herausforderungen einer Lebenssituation ist. Die Kirche gedenkt am 21. Mai dieses Propheten, der mit seinem Weitblick und Durchblick für uns Vorbild der Gewissenstreue und Anwalt der Gewaltlosigkeit sein kann. Am 26. Oktober 2007 wurde er seliggesprochen. – Ich habe den Hof der Familie Jägerstätter in St. Radegund in Oberösterreich (Diözese Linz) selbst einmal besucht. Damals lebte seine Frau Franziska noch. Ich konnte mit ihr sprechen. Ihr Lebens- und Glaubenszeugnis ist für mich ein kostbarer Schatz in meinem Gedächtnis. Der Weg von Franz Jägerstätter ist ohne seine Frau Franziska nicht zu verstehen.

Franz Jägerstätter wurde am 20. Mai 1907 in St. Radegund geboren. Er wuchs in armen Verhältnissen auf, interessierte sich aber für Bücher und Religion. »Wer nicht liest«, sagte er später, »wird sich nie so richtig auf die eigenen Füße stellen können, wird nur zu leicht zum Spielball der Meinungen anderer.« Zunächst arbeitete Jägerstätter auf einem Bauernhof, später in einem Bergwerk in der Steiermark. Soziale Konflikte stellten ihn in seinem Glauben auf die Probe. Aus diesen Konflikten ging er gestärkt hervor. 1933 starb sein Adoptivvater, der ihm seinen Bauernhof vermachte. Franz wollte das Erbe nicht annehmen und ist in ein Kloster eingetreten. Sein Ortspfarrer aber überzeugte ihn: In diesen schwierigen Zeiten seien Menschen gefragt, die in der Welt ihren Glauben bezeugten. Außerdem war Jägerstätter Vater einer unehelichen Tochter geworden. Die Mutter des Kindes war Magd auf einem Nachbarbauernhof. Von ihr trennte er sich in Freundschaft. Auch zu seiner Tochter unterhielt er eine gute Beziehung. 1936 heiratete Franz Jägerstätter schließlich Franziska Schwaninger, die Tochter eines anderen benachbarten Bauern. Auf dessen Vorschlag hin unternahm das Paar eine Hochzeitsreise nach Rom, wo es auch eine Papstaudienz besuchte. Die Heirat wurde sein Wendepunkt. Franz und Franziska lebten bewusst ihren Glauben, während sie den Hof bewirtschafteten. Drei Töchter gingen aus der Ehe hervor. Er habe sich nie vorstellen können, dass die Ehe so schön sein könne, bekannte Jägerstätter später.

Als 1938 die Nationalsozialisten in Österreich einmarschierten, verweigerte Jägerstätter dem Regime jede Unterstützung. Als einziger seines Ortes stimmte er gegen den Anschluss Österreichs an Deutschland. In einem Traum sah er einen Zug von unzähligen Menschen, die von Nazi-Schergen ins Verderben geführt wurden. 1940 wurde Jägerstätter zum Militärdienst eingezogen. Da ihn seine Heimatgemeinde als »unabkömmlich« einstufte, konnte er bald wieder zurückkehren. Einer weiteren Einberufung widersetzte sich Jägerstätter. Öffentlich erklärte er, dass es einem Christen unmöglich sei, Hitler in seinem Willen zur Weltherrschaft zu unterstützen und dafür Menschenleben zu opfern. Als er in eine Kaserne einbestellt wurde, sprach er seine Verweigerung offen aus. Jägerstätter wurde verhaftet und in ein Wehrmachtsgefängnis in Linz gebracht. Seiner Frau schrieb er, er wolle ein Zeichen setzen und sich nicht von dem Strom mitreißen lassen. Wenig später wurde Jägerstätter nach Berlin überführt und wegen »Zersetzung der Wehrkraft« zum Tode verurteilt. Bis zuletzt schlug er jedes Angebot aus, die Verweigerung zu widerrufen. Am 9. August 1943 wurde Franz Jägerstätter im Zuchthaus Brandenburg an der Havel enthauptet. – Nach dem Krieg wurde Jägerstätters Urne an der Außenmauer der Kirche in St. Radegund begraben. Gegen heftigen Widerstand setzte der damalige Pfarrer durch, dass sein Name auch unter den Toten des Zweiten Weltkrieges am Kriegsdenkmal aufgeführt wurde. Schon die beiden Pfarrer, die ihn in Berlin bis zur Hinrichtung begleitet haben, sahen in Jägerstätter ein großes Vorbild und einen Heiligen. Seine Ruhe und seine fast schon fröhliche Gelassenheit kurz vor seinem Tod hatten die Priester tief beeindruckt.

Beim Studieren seiner Briefe und der Schriften über Franz Jägerstätter ist mir seine Klarheit aufgefallen. Schon früh erkannte er deutlich die Barbarei und Menschenverachtung des Nationalsozialismus. Er brandmarkte den Rassenwahn, die Kriegsideologie und Staatsvergötterung. Er ahnte, wie schnell sich das Blatt gegen das Christentum und alle gebildete Kultur wenden würde. Er weigerte sich, das Todessystem zu unterstützen und als Soldat in Hitlers Krieg zu ziehen. Als Wehrdienstverweigerer wurde er verurteilt und hingerichtet.

Seine Frau Franziska hofft immer wieder auf einen Ausweg, steht aber zu ihm in seiner Entscheidung: »Wenn ich nicht zu ihm gehalten hätte, hätte er ja niemanden gehabt«, sagte sie. Am 1. März 1943 meldet sich Franz Jägerstätter bei seiner Stammkompanie in Enns und erklärt, »dass er aufgrund seiner religiösen Einstellung den Wehrdienst mit der Waffe ablehne, … dass er gegen sein religiöses Gewissen handeln würde, wenn er für den nationalsozialistischen Staat kämpfen würde, …, er könne nicht gleichzeitig Nationalsozialist und Katholik sein, … es gebe Dinge, wo man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Aufgrund des Gebots ›Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst‹ dürfe er nicht mit der Waffe kämpfen, er sei jedoch bereit als Sanitätssoldat Dienst zu leisten«. Im Unterschied zu nationalsozialistisch Gesinnten betet er nicht um den Sieg, sondern um den Frieden.

Warum ist für die Kirche und unsere Gesellschaft eine Erinnerung an Franz Jägerstätter lebenswichtig? Franz Jägerstätter ist ein Mann des Gewissens. Dabei geht es nicht um die rückwärtsgewandte Idealisierung eines Christen, sondern für uns um die Erinnerung an diesen einfachen Bauern als eine »gefährliche Erinnerung« (J. B. Metz). – Franz Jägerstätters Lebens- und Glaubenszeugnis kann zu Veränderungen in der Theologie und Spiritualität der Kirche inspirieren. Wir können Spuren seines Glaubenszeugnisses in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils wiederfinden bis hin zu einer Neubewertung der Wehrdienstverweigerung, der Gewissensentscheidung eines Christen. Er hat eine Theologie des Friedens praktiziert und einen Weg der Seligpreisungen im Alltag des Lebens eröffnet. Auf seine Weise hat er schon das gemeinsame Priestertum aller Getauften gelebt, das das Konzil neu entdeckt hat.

Franz Jägerstätter, Christ im Widerstand, Anwalt des Gewissens in Staat und Kirche, Zeuge eines eigenständigen Lebenszeugnisses aus dem Glauben heraus, Beispiel für die Freiheit und Unabhängigkeit eines Christenmenschen. Franz Jägerstätter – sein Zeugnis wollen und dürfen wir nicht vergessen.

Marcel Callo

Papst Franziskus schreibt in Evangelii gaudium: »Die Mission im Herzen des Volkes ist nicht ein Teil meines Lebens oder ein Schmuck, den ich auch wegnehmen kann; sie ist kein Anhang oder ein zusätzlicher Belang des Lebens. Sie ist etwas, das ich nicht aus meinem Sein ausreißen kann, außer ich will mich zerstören. Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt.« (EG 273) Dieses Verständnis eines missionarischen Christen von Papst Franziskus beschreibt die Motivation eines jungen Franzosen, dessen Glaubenszeugnis mich tief beeindruckt: Marcel Callo.

Marcel Callo wurde am 6. Dezember 1921 in Rennes geboren. Er wuchs in einer armen Arbeiterfamilie auf. Seine Eltern und Geschwister hatten nicht für jeden Tag ausreichend Essen. Er machte eine Lehre als Buchdrucker. In seiner Kindheit lernte er die Pfadfinder kennen und in seiner Jugendzeit wurde er Mitglied in der Christlichen Arbeiterjugend (CAJ). Die Entscheidung für die Arbeiterschaft war eine bewusste Entscheidung Marcels. Seine Mutter glaubte, er könnte Priester werden, worauf er antwortete: »Ich danke dir, Mutter, aber ich fühle mich nicht zum Priestertum berufen, ich glaube, dass ich in der Welt mehr Gutes bewirken kann.« Sein Eintritt in die CAJ hat seinen Lebens- und Glaubensweg geprägt. Marcels Fähigkeiten und seinen Eifer, seine Leitungsfähigkeiten konnte er dort entfalten. Seine Begeisterung hat in seine Umgebung ausgestrahlt. »Der Christ ist diesen Namen nicht wert, wenn er nicht kämpft. … Er muss Apostel sein … es ist vielmehr Aufgabe jedes echten Christen … auch das göttliche Leben zu vermitteln, das er selbst empfangen hat.«

Ab 1933 werden Teile Frankreichs durch die Nazis besetzt. Am 8. März 1943 wurde Rennes mitten am Tag von den sogenannten »fliegenden Festungen« angegriffen. Marcel musste seine tote Schwester aus den Trümmern ihres Büros tragen. Einige Tage später erhält er die Nachricht, als sogenannter »freier Arbeiter« nach Deutschland gehen zu müssen. Wenige Tage später fährt er los. »Ich gehe nicht als Arbeiter, ich fahre als Missionar, um den anderen zu helfen durchzuhalten«, so war sein Selbstverständnis. Fünf Tage war er in einem Viehwaggon unterwegs nach Suhl in Thüringen. Diese Einberufung kam zu einer Zeit, in der er gerade die Freundschaft mit einer jungen Frau begonnen hatte. In wenigen Tagen sollte sein Bruder Johannes zum Priester geweiht werden. Er konnte sich nicht richtig von der CAJlern verabschieden und die Trauer um den Tod seiner Schwester mit niemanden teilen. Die ersten Wochen im Lager von Zella-Mehlis waren für Marcel qualvoll. In der Fabrik musste er Pistolen montieren. Er versuchte dies zu tun, indem er besonders langsam und schlecht arbeitete; für ihn war das eine Form des Widerstandes. Er ist traurig und weint. Erst nach Monaten findet er seinen Kampfgeist wieder.

Sein Glaube hat ihm dabei geholfen. Sein positives Gottesbild zeigt sich in seinen Worten: »Glücklicherweise gibt es einen Freund, der mich nicht einen einzigen Augenblick verlässt und der versteht, mich in notvollen und niederdrückenden Stunden aufrechtzuerhalten. Mit IHM erträgt man alles. Wie dankbar bin ich Christus, dass er mir den Weg, auf dem ich mich gegenwärtig befinde, durch sein Beispiel vorgezeichnet hat!« Am Sonntag nimmt Callo in der Stadt an der Eucharistie teil. Im Geheimen organisiert er eine katholische Aktionsgruppe, Gottesdienste, Einkehrtage und Glaubensgespräche. Er fängt an, Arbeiter zu organisieren. »Ich bin stolz und glücklich, Christ zu sein, und mühe mich, es jeden Tag zu sein.« Es entsteht im Lager eine eigene Bewegung. Franzosen, Belgier, Tschechen treffen sich unter Gefahr, um ihren Glauben auszudrücken. Bis zu 100 Arbeiter machen mit. Als die Kriegsereignisse den Deutschen viele Niederlagen zufügen, werden der Druck und die Verfolgung immer größer.

Am 19. April 1944 wird Marcel Callo verhaftet und muss wegen sogenannter »staatsgefährdenden Tätigkeiten« ins Gefängnis. Als ein Kamerad den Gestapomann fragt: »Warum verhaften Sie ihn?« antwortet dieser: »Der Herr ist viel zu katholisch.« Der Gestapo war eine Liste der Verantwortlichen in die Hände gefallen, darunter auch der Name von Marcel Callo. Die Festgenommenen werden in Gotha zusammengefasst und der Gestapo vorgeführt. Danach steckt man sie – bis zum endgültigen Urteilsspruch der Gestapo Berlin – ins Strafgefängnis von Gotha. In langen Verhören wird Marcel gezwungen, alle Briefe und Fotografien von seiner Familie, seiner Braut und seinen Kameraden zu vernichten. Am 6. Juli 1944 schreibt Marcel seinen letzten Brief, den seine Familie von ihm erhalten hat.

Marcel und einige Freunde werden im Oktober 1944 erst nach Hof verlegt; am 18. Oktober kommen sie ins KZ Flossenbürg. Schließlich wird Callo nach Österreich ins KZ Mauthausen, Lager Gusen verlegt. Er muss Flugzeugmunition sortieren. Über den Torbogen vom KZ Mauthausen stand: »Hinein geht’s durch das Tor, hinaus durch den Schornstein.« Die Hölle von Mauthausen hat Marcel Callo nicht überlebt. Am 19. April 1945 starb er als einer von 300.000 Opfern dieses Konzentrationslagers.

Am 4. Oktober 1987 ist Marcel Callo von Papst Johannes Paul II. seliggesprochen worden. Die Kirche hat mit ihm einen jungen Christen zur Ehre der Altäre erhoben, der sich als Missionar im Krieg und in der Hölle von Mauthausen verstanden hat. Für ihn war Mission ein unfassbarer Lebensschwung. Weit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat er sein Christsein, wie es auf den Wegen seines Alltags zu leben war, als Konkretisierung des Sakraments der Taufe verstanden. Seine Gottesdienste im Wald, seine Einkehrtage und Glaubensgespräche waren Ausdruck einer Volk Gottes-Theologie in der Verfolgung. Er kannte keine Aufteilung in sozial oder fromm, politisch oder kirchlich. Er war aktiver Gewerkschafter, feierte regelmäßig die Eucharistie mit, wandte sich seinen Mitbürgern und Mitgefangenen zu. Er lebte Mission als ganzheitliche Berufung.

Das tägliche Gebet von Marcel Callo ist Ausdruck dieser Berufung: »Jesus Christus, ich will in der Christlichen Arbeiter-Jugend immer mehr ein Leiter, ein Vorkämpfer werden, der stolz, rein und fröhlich ist. Mit einem Herzen, das überströmt von Liebe zu meinen Brüder, will ich die jungen Arbeiter gewinnen. In DIR, Jesus, will ich leben. Mit DIR will ich arbeiten. Durch DICH will ich beten. Für DICH will ich alle meine Kräfte und meine ganze Zeit einsetzen – in allen Situationen meines Lebens.«

Pater Rutilio Grande SJ

Papst Franziskus schreibt in Evangelii gaudium: »Der Glaube behält immer einen Aspekt des Kreuzes, eine gewisse Unverständlichkeit, die jedoch die Festigkeit der inneren Zustimmung nicht beeinträchtigt. Es gibt Dinge, die man nur von dieser inneren Zustimmung her versteht und schätzt, die eine Schwester der Liebe ist, jenseits der Klarheit, mit der man ihre Gründe und Argumente erfassen kann.« (EG 42) – Am 12. März 1977 wurde der Jesuitenpater Rutilio Grande auf dem Weg zu einem Gottesdienst in der Gemeinde Aguilares bei El Paisnal zusammen mit dem Küster Manuel Solorzano und dem 16jährigen Nelson Rutilio Lemus aus einem Hinterhalt erschossen. Die Organisation der Großgrundbesitzer übernahm die Verantwortung für diese Bluttat. Erzbischof Oscar Romero sagte an dem folgenden Sonntag sämtliche Messen in seinem Bistum ab. Stattdessen feierte er mit über 100.000 Menschen eine Messe in der Kathedrale. Rutilio Grande wurde zu einer Symbolfigur einer Kirche mit den Armen in El Salvador. Sein Tod gab den entscheidenden Anstoß für eine Neupositionierung von Erzbischof Oscar Romero. Im Februar 2020 hat Papst Franziskus den Weg für die Seligsprechung von Rutilio Grande und seiner beiden Begleiter freigemacht, indem er sie als Märtyrer anerkannte.

Rutilio Grande wurde am 5. Juli 1928 in El Paisnal geboren. 1959 wurde er zum Priester geweiht. Er studierte einige Jahre in Europa und kehrte 1965 nach El Salvador zurück, wo er Leiter der Sozialarbeit des Seminars wurde. 1972 wurde er Pfarrer von Aguilares, baute Basisgemeinden auf und bildete Katecheten aus. Er setzte sich energisch für die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Kleinbauern ein. Er organisierte die Landlosen. Für Regierung und Großgrundbesitzer war er eine Bedrohung ihrer gesellschaftlichen Macht. »Es ist gefährlich, bei uns Christ, echter Katholik zu sein. Niemand wird bestreiten können, dass ein echter Christ bei uns in diesem Land Schikanen zu erleiden hat, denn die Umgebung, in der wir leben, ist eine radikale, etablierte Unordnung«, so heißt es in einer Predigt von Rutilio Grande.

Rutilio Grande hat sich den Konflikten mit den Mächtigen im Land gestellt. Er hat den Ortswechsel einer Kirche der Armen, einer Kirche, die sich aus dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils versteht, gelebt. Oscar Romero war zwar mit Rutilio Grande befreundet, doch er stand seiner pastoralen Arbeit reserviert gegenüber. Die Konfrontation mit dem Marytrium Grandes führt zu Romeros Umdenken: »Als er vor den drei noch blutigen Körpern stand, spürte er, dass er nun den Weg Rutilios gehen musste. Innerhalb weniger Wochen wurde er zu einem prophetischen Verteidiger der Armen. Einige sprachen vom ›Wunder Romero‹, das durch den Tod Rutilio Grandes ausgelöst wurde.« (Martin Meier SJ)

Das Studium in Europa zur Zeit Konzils motivierte Rutilio Grande, sich intensiv für eine Erneuerung der Kirche in El Salvador einzusetzen. Er war einer der ersten Vertreter einer Theologie der Befreiung, die eine Verkündigung mit den Armen praktizieren wollte. Ausgangspunkt waren die soziale Wirklichkeit des Landes und die Botschaft des Evangeliums, ganz im Sinne des Dreischritt »sehen – urteilen – handeln«, der sich auch in Gaudium et Spes wiederfindet, der Pastoralkonstitution des Konzils »über die Kirche in der Welt von heute«. In einer Predigt Grandes vom 13. Februar 1977 wird diese Verbindung deutlich: »Liebe Brüder und Freunde, ich bin mir bewusst, dass sehr bald die Bibel und das Evangelium nicht mehr die Grenzen überschreiten können. Bei uns kommen nur noch die Buchdeckel an, da alle Seiten subversiv – gegen den Sünder, wie er es versteht – sind. Falls Jesus die Grenze in der Nähe von Chalatenango überqueren würde, würden sie ihn nicht hereinlassen. Sie klagen den Herrgott … der Agitation an, den jüdischen Ausländer, welcher das Volk mit exotischen ausländischen Ideen verwirrt, Ideen gegen die Demokratie, das ist gegen die Minderheit. Ideen gegen Gott, denn es ist ein Clan von Kains. Brüder, es besteht kein Zweifel, dass sie wieder kreuzigen. Und sie haben es angekündigt. «

Rutilio Grande redet das Kreuz – das Martyrium nicht weg. Er steht in den Konflikten der unterschiedlichen Interessen und Klassen. Die Ermordung – das Kreuz – ist für Rutilio Grande die Konsequenz einer entschiedenen christlichen Praxis. So sagte Oscar Romero über die beiden ersten in El Salvador ermordeten Priester Rutilio Grande SJ und Alfonso Navarra: Für mich sind sie wirkliche Märtyrer im Sinne des Volkes. Die offiziellen Selig- und Heiligsprechungsverfahren in der katholischen Kirche verlaufen häufig langsam und sind zäh. Viele Christen, die umgebracht wurden, werden spontan in ihren Gemeinden als Märtyrer verehrt.

Die Spuren der Verehrung von Rutilio Grande konnte ich bei einem Besuch 2019 in der Gemeinde Aguilares erleben. In einer Eucharistiefeier haben wir ein Lied von Rutilio Grande SJ gesungen. Es drückt die Vision seiner Verkündigung aus (vgl. P. Rutilio Grande SJ, 1977 in El Salvador ermordet; übers. von Margit Eckholt, Blickpunkt Lateinamerika 3/2014, S. 3): »Wir gehen alle zum Bankett / zum Tisch der Schöpfung. / Jeder hat, mit seinem Hocker, einen Platz und einen Auftrag. // Heute stehe ich sehr früh auf, / die Gemeinde wartet schon auf mich; / ich steige fröhlich den Hügel hinauf, / auf der Suche nach Deiner Freundschaft. // Gott lädt alle Armen ein zu diesem Tisch, / der allen gemeinsam ist im Glauben, / wo es keine Unterdrücker gibt, / und niemandem etwas fehlt, um ihn zu decken. // Gott sendet uns, aus dieser Welt / einen Tisch zu machen, wo es Gleichheit gibt, / wo wir gemeinsam arbeiten und kämpfen / und unser Eigentum teilen.«

Oscar Romero
»Jesus fordert seine Jünger auf: ›Gebt ihr ihnen zu essen.‹ (Mk 6,37) Und das beinhaltet sowohl die Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen.« (EG 188) Diese Worte aus dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von Papst Franziskus können gut den sozial-pastoralen Ansatz von Oscar Romero beschreiben, einem der großen Glaubens-Vorbilder unserer Tage. Papst Franziskus hat sich für die Heiligsprechung von Erzbischof Romero eingesetzt. Er hat ihn persönlich gekannt. Oscar Romero ist einer der jüngsten Heiligen der katholischen Kirche. Er wurde am 14. Oktober 2018 heiliggesprochen. In der Vorbereitung auf den Weltjugendtag 2019 bin ich selbst einige Tage mit Jugendlichen auf seinen Spuren in El Salvador gewesen; ich werde die Tage in der Märtyrerkirche nicht vergessen.

Am 24. März 1980 fiel der Schuss, als Oscar Romero gerade den Kelch zur Wandlung in der Kapelle des Krankenhauses La Divina Providencia (Göttliche Vorsehung) in San Salvador erhoben hatte. Die Kugel traf den Bischof am Kopf, er stürzte tot zu Boden. Zu dieser Zeit war ich mit den Vorbereitungen für die Abschlussprüfungen in meinem Theologiestudium in Frankfurt-Sankt Georgen beschäftigt. Wir waren bestürzt, organisierten Gedenkgottesdiente, trafen uns zu Mahnwachen. Der Kämpfer für Glaube und Gerechtigkeit war Opfer der politisch Mächtigen geworden. Man wollte den unbequemen Bischof zur Seite schaffen. Oscar Romero hatte immer das gewaltsame Vorgehen der Polizei und des Militärs gegen die schwächsten Glieder der Gesellschaft angeprangert. An der Beerdigung nahmen tausende Menschen teil und forderten Freiheit und Gerechtigkeit. Es kam zu Tumulten. Über 40 Menschen wurden erschossen; es brach Massenpanik aus, bei der Menschen totgetrampelt wurden. Der folgende Bürgerkrieg forderte über 75.000 Tote. Oscar Romero wurde zu einer Identifikationsfigur im Kampf gegen Armut und Unterdrückung, nicht nur in El Salvador.

Die Lebens- und Glaubensgeschichte von Oscar Romero ist von großen persönlichen Veränderungen – man kann auch von Bedrohungen sprechen – gekennzeichnet. Am 15. August 1917 in einer armen Familie geboren, erwachte beim zwölfjährigen Oscar der Wunsch, Priester zu werden. Die Familie war zunächst von dieser Vorstellung nicht begeistert. Ein Freiplatz ermöglichte ihm ein Theologiestudium in Rom. 1942 wurde er dort zum Priester geweiht. Oscar Romero war fromm, konservativ und lebte asketisch. In seinem Einsatz als Seelsorger war er geschätzt, in den sozialen Spannungen ging er in Distanz. Er hatte kein Interesse an politischen Auseinandersetzungen. Er machte schnell eine kirchliche Karriere. 1970 wurde er Weihbischof, anschließend Bischof in Santiago de Marie, 1977 Erzbischof in San Salvador. In dieser Zeit wurde er mit der Not der Menschen in den Gemeinden konfrontiert, wodurch ihm die strukturelle Dimension der Armut bewusst wurde. Zur Theologie der Befreiung blieb er in Distanz bis zu den Konflikten zwischen Großgrundbesitzern und Bauern, die bis heute andauern. Eine kleine Gruppe von Machthabern unterdrückte das ganze Land.

Der 12. März 1977 veränderte der Leben von Oscar Romero. Der Jesuit P. Rutilio Grande wurde auf offener Straße ermordet. Romero konnte und wollte nicht mehr schweigen. Der Tod seines Freundes führte zur Neupositionierung seines bischöflichen Dienstes. Romero gewann die Einsicht, dass die Probleme El Salvadors nicht durch bloße Wohltätigkeit zu lösen waren. Es muss die Frage nach den Ursachen der Armut und Ungerechtigkeit gestellt werden. Die beiden Jesuiten und Befreiungstheologen Jon Sobrino und Ignacio Ellacuría machte er zu seinen engsten Beratern. Sein Bischofshaus wurde Treff für Widerstandsgruppen der Bauern und Studenten. Er lebte gefährlich. Er scheute die Gefahr nicht. In seinen täglichen Radioansprachen forderte er die Soldaten auf, sich auf die Seite der Armen und Benachteiligten zu stellen. Kurz vor seinem Tod sagte er: »Wer sich davor hütet, die Gefahren des Lebens auf sich zu nehmen, so wie es die Geschichte von uns verlangt, der wird sein Leben verlieren. Wer sich hingegen aus Liebe zu Christus in den Dienst der anderen stellt, der wird wie ein Samenkorn, das stirbt, aber in Wirklichkeit lebt.«

Mitglieder des Militärs hatten den Auftrag, ihn zu ermorden. Für Erzbischof Romero war die Verfolgung ein Kennzeichen von Kirche: Die Verfolgung ist ein charakteristisches Zeichen für die Echtheit der Kirche. Eine Kirche, die keine Verfolgung erleidet, sondern die Privilegien genießt und auf irdische Dinge baut, diese Kirche sollte Angst haben! Sie ist nicht die wahre Kirche Jesu Christi. Romero sah in der Verfolgung der Kirche ein Zeichen dafür, dass sie ihre Sendung erfüllt.

Oscar Romero war nur drei Jahre lang Erzbischof in El Salvador. Sein Einstehen für einen gerechten Frieden kostete ihn das Leben. Er wurde von der großen Mehrheit des salvadorianischen Volkes längst heiliggesprochen und die amtliche Kirche hat dies dank Papst Franziskus nachgeholt.

In einem Text von Oscar Romeros, der sich wie ein Vermächtnis liest, heißt es: »… Wir bringen das Saatgut in die Erde, das eines Tages aufbrechen und wachsen wird. Wir begießen die Keime, die schon gepflanzt sind in der Gewissheit, dass sie eine weitere Verheißung in sich bergen. Wir bauen Fundamente, die auf weiteren Ausbau angelegt sind. Wir können nicht alles tun. Es ist ein befreiendes Gefühl, wenn uns dies zu Bewusstsein kommt. Es macht uns fähig, etwas zu tun und es sehr gut zu tun. Es mag unvollkommen sein, aber es ist ein Beginn, ein Schritt auf dem Weg, eine Gelegenheit für Gottes Gnade, ins Spiel zu kommen und den Rest zu tun. Wir mögen nie das Endergebnis zu sehen bekommen, doch das ist der Unterschied zwischen Baumeister und Arbeiter. Wir sind Arbeiter, keine Baumeister. Wir sind Diener, keine Erlöser. Wir sind Propheten einer Zukunft, die uns nicht allein gehört.«

Theo Paul

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