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Die Schriftleitung
Leseprobe 2
Das geistliche Lied
I. Ave Maria — II. Let it be
I. Ave Maria

Ein Kriegs- und Liebesdrama

Stellen Sie sich folgende Szenerie vor Augen: Ein ethnischer Konflikt zwingt einen aufständischen Clan zur Flucht in bergiges Grenzland. Auf der Jagd verirrt sich ein gegnerischer Anführer in diese Gegend. Da findet die Tochter eines der Aufständischen den verirrten Jäger und gewährt ihm Zuflucht. Dieser verliebt sich in das Mädchen, um das aber schon länger der Clanführer der Rebellen wirbt, während sie in einen ganz anderen Soldaten verliebt ist. Es kommt zu einem Kampf, in dem der Jäger den Rebellen verwundet und als Geisel in sein Herrschaftsgebiet verschleppt. Nun bietet sich der Vater des Mädchens dem Gegner zum Tausch an, um die verbündeten Separatisten zu retten. Er nimmt seine Tochter mit und diese hat selbstverständlich große Angst um ihren Vater und ihr Volk.

Diese Szenerie gäbe ein hervorragendes Filmlibretto für ein Kriegs- und Liebesdrama der letzten zehn Jahre ab. Er könnte genauso in Bosnien-Herzegowina gespielt haben wie in kurdischen Rückzugsgebieten oder bei den Taliban. Oder in Nordirland.

Das ist gar nicht so falsch gelegen. Es ist nämlich der Balladenstoff, der dem Text des eben gehörten Ave Maria zugrunde liegt. 1810 erschien die Vers-Erzählung »The lady of the lake«, »Die Dame vom See« von Sir Walter Scott. Er war ein beliebter Autor von Ritterepen und Romanschriftsteller, der allerdings immer im Schatten von Lord Byron stand. Wir verdanken ihm großartige Schilderungen der wunderschönen und geschichtsträchtigen Landschaft Schottlands. Hintergrund für dieses Epos sind die Konflikte und Grenzfehden zwischen gälischen Traditionalisten und dem stark anglisierten Königshaus unter Jakob V.

Schuberts Liederzyklus


Die Szenen aus der Scottschen Grenzballade sind Teil eines aus sieben Liedern bestehenden Zyklus, den Franz Schubert 1825 veröffentlichen ließ. Sechs Jahre zuvor war eine deutsche Textfassung des englischen Originals erschienen. Die Ambivalenz von Krieg und Frieden, die Fragen von feudaler Ordnung und Revolution, von der Spannung zwischen einer multinationalen Dynastie und einem erwachten selbstbewussten Bürgertum in der Zeit nach den napoleonischen Kriegen wird die Menschen, so auch Franz Schubert, genauso bewegt haben wie uns heute. Globalisierung, multikulturelle Gesellschaft, nationale Interessen, ethnische Konflikte und Grenzstreitigkeiten beschäftigen uns in ihrer Ambivalenz bis heute.

Damals befand sich der 28jährige Schubert auf einer mehrmonatigen Reise durch Österreich, auf der ihn ein befreundeter Opernsänger begleitete. Dieser konnte die komponierten Lieder sofort vortragen und dadurch ein wenig Freude in Schuberts ereignisloses und zunehmend vereinsamtes Leben bringen.

Hymne an die Jungfrau

Besonders überrascht war Schubert wohl vom Erfolg des sechsten Liedes aus dem Zyklus, Ellens Gesang III: »Hymne an die Jungfrau.« Es enthält das Gebet des jungen Mädchens aus dem Scottschen Drama für den gefangenen Vater. Ende Juli 1825 schreibt Schubert aus Steyr an seine Eltern: »Besonders machten meine neuen Lieder, aus Walter Scott’s Fräulein vom See, sehr viel Glück«, oder am 12. September an seinen Bruder Ferdinand aus Gmunden, dass sie gebeten wurden, »unsere sieben Sachen vor einem auserwählten Kreise zu produzieren, die denn auch unter der besonderen Begünstigung des … Ave Maria’s Allen sehr zu Gemüte gingen. Die Art und Weise, wie Vogl singt und ich accompagniere, wie wir in einem solchen Augenblicke Eins zu sein scheinen, ist diesen Leuten etwas ganz Neues, Unerhörtes.«

Aufgrund der Entstehung dieses Liedes und seiner Wirkungsgeschichte mag uns die Frage beschäftigen, ob es sich bei diesem Ave Maria um religiöse Musik handelt. Schubert schreibt selber zu diesem Thema an seine Eltern: »Auch wunderte man sich sehr über meine Frömmigkeit, die ich in einer Hymne an die heilige Jungfrau ausgedrückt habe und, wie es scheint, alle Gemüter ergreift und zur Andacht stimmt. Ich glaube, das kommt daher, weil ich mich zur Andacht nie forciere, und, außer wenn ich von ihr unwillkürlich übermannt werde, nie dergleichen Hymnen oder Gebete komponiere, dann aber ist sie auch gewöhnlich die rechte und wahre Andacht.« Also man hat sich gewundert über Schuberts Frömmigkeit – es scheint wohl kein so bekannter Zug in seinem Leben gewesen zu sein. Er war vermutlich wirklich irgendwie fromm und religiös, wenn man darunter im Sinn der Romantiker und der Aufklärung eine subjektive Gefühlshaltung versteht. Solche Frömmigkeit und Religiosität sind nicht an kirchliche Dogmen und Katechismuswahrheiten gebunden, ebenso wenig wie die daraus erwachsende Musik Kirchenmusik im Sinne kirchlich-liturgischer Regeln. Ein irgendwie vorgeschriebenes Glaubensbekenntnis hat Schubert stets abgelehnt. Glaube ist ihm etwas ganz Persönliches, Privates. Dabei schien ihm der Glaube ganz in der aufklärerischen Grundhaltung als eine Art Vorstufe zu den höheren Schritten des Verstandes und der wahren Erkenntnis gegolten zu haben.

Angesichts dieses Tatbestandes möchte man mit dem Prediger Kohelet sagen, nichts neues unter dem Himmel. Wie sich die Menschen und Zeiten doch gleichen! Es kehren die gleichen politischen Verhältnisse, die in der Ballade zur Sprache kommen, wieder. 16. Jahrhundert – 18. Jahrhundert – 20. Jahrhundert. Subjektivistisch geprägte Religiosität können wir bei den griechischen Lyrikern und Vorsokratikern nachweisen, wie in der ausklingenden Blüte des römischen Imperiums, wie in der Romantik, wie beim heutigen Zeitgenossen, der die Verkündigungsarbeit der Kirche vor scheinbar unlösbare Aufgaben stellt. Und doch ist das ach so subjektivistische, ja eigentlich weltliche Ave Maria, Ellens Song III, unverzichtbarer Bestandteil kirchlicher Liturgie geworden – zum Leidwesen vieler Seelsorger, die sich bei Trauungen und Requien gerne mehr Abwechslung wünschen würden. Irgendwann hatte sogar jemand den Einfall, den Text des lateinischen Ave Maria eher schlecht als recht unter das deutsche Original zu basteln; paradoxer- und auch etwas kurioserweise ermöglichte das in den romanischen Ländern wiederum den Auszug des Ave Maria aus der Kirche in die eintragsreichere Welt der nicht immer nur wohltätigen Shows von Pavarotti, Domingo oder anderen Startenören, die sich an den konsonantenreichen deutschen Silben sonst die Zunge abbeißen würden. Den umgekehrten Weg, dass weltliche Musik zur geistlichen wird gab es allerdings schon viele Jahrhunderte zuvor. Man denke nur an das Bachsche Parodieverfahren im Weihnachtsoratorium.

Schubert hat also mit dem eben gehörten Lied keine Kirchenmusik geschrieben. Und doch ist es Musik der Kirche geworden. Welchen geistlichen, religiösen Gewinn können wir aus solcher Musik ziehen? Sicher, jede Musik deutet an, zu welch schöpferischen Fähigkeiten der Mensch begabt ist. Dass er sich hinausstrecken kann über sich selbst, seinen Alltag, seine scheinbare Auslieferung an ein unbestimmbares Schicksal. Er kann Sehnsucht ausdrücken, auch die Sehnsucht nach der Erfüllung seines Lebens, das ihm in der Seele eingestiftet ist und wie uns große Heilige lehren letztlich nur in Gott seine Erfüllung findet.

Gerade in der Schubertschen Vertonung des Ave Maria kann ich allerdings einen besonderen, eigenen Hinweis entdecken, in dem gleichsam die musikalische, die textliche und die religiöse Dimension zum Einklang kommen. Dazu müssen wir ein wenig auf die kompositorische Anlage des Liedes blicken. Das Stück wäre nicht so beliebt, wenn es nicht von einer gewissen überwältigenden Innigkeit zeugen würde. Unter Fachleuten gilt es nicht gerade als bedeutendes Werk. Doch wer kann über Genialität von Musik letztlich adäquat urteilen? Als Begleitinstrument ist von Schubert die Harfe vorgesehen, ein Instrument, das als Symbol der betenden Verbindung mit dem Himmel in die Kunst der Kirche eingegangen ist. Denken wir dabei bitte nicht an den Münchner im Himmel, sondern an König David, dem das schon auf Christus hinweisende Gebetbuch der Psalmen zugeschrieben ist. Die Begleitung besteht aus einem sextolischen Rhythmus. Schon in der altklassischen Vokalpolyphonie waren Dreier-Rhythmen ein kompositorischer Hinweis auf die Trinität. Aber das alles mag eher unbeabsichtigt, intuitiv sich ergeben haben, da sich Schubert bestimmt nicht wie ein Palestrina an einen vorgegebenen Regelkodex musikalischer Dogmeninterpretation gehalten hätte. Ich möchte, wenn Sie das Lied gleich noch einmal in der lateinischen Textvariante hören, Ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken. Die Melodie besteht aus relativ langen Phrasenbögen, die in Verbindung mit einer geschickt gewählten Harmonisierung eine sehr innigliche Spannung erzeugen. Für den Sänger, die Sängerin wird das Lied durch diese langen Spannungsbögen zu einer echten Herausforderung, die man ihm so zunächst gar nicht anhört, das aber durchaus zu einem Prüfstein technischer Meisterschaft wird.

Aber darin liegt nach meiner Ansicht das religiöse Geheimnis unseres Liedes. Die Situation der Ellen in den Kriegswirren ihrer Zeit erfordert langen Atem. Unsere schnelllebige, hektische und bindungsunfähige Gesellschaftsgegenwart schreit nach dem langen Atem des Gebetes. Maria, die einfache Frau aus dem geknechteten Volk, ist die Mutter des langen Atems eines unbändigen Vertrauens auf Gott, der die Verhältnisse umkehrt, indem der die Mächtigen vom Thron stürzt und die Niedrigen erhebt, indem er die Hungrigen nährt und die Reichen, die Satten leer ausgehen lässt. Darum stimmt ja dann doch auch die Unterlegung des englischen Grußes aus dem Lukasevangelium unter diese Melodie. Das Ave Maria, das Gegrüßet seist du Maria, ist nun seit 2000 Jahren das Gebet des langen Atems der Menschen zu Gott. Für die einfachen Menschen ist es im Rosenkranz der Ersatz zum mönchischen Psalmengebet geworden, das die Wachheit einer auf die Rückkehr des Bräutigams wartenden Christenheit, die Sehnsucht nach Erlösung ausdrückt. Es ist das Gebet des langen Atems, das sogar über die schrecklichste Wahrheit, die uns den Atem endgültig zu rauben scheint, den Tod, hinausreicht, wenn wir sprechen: »Bitte für uns Sünder«, uns Kleinatmige, uns Schwächlinge, denen ständig die Puste ausgeht, jetzt, aber auch in der Stunde unseres Absterbens, wie wir früher gesagt haben. Immer waren es auch Kriegswirren, Schlachten, Lepanto, Türken vor Wien, 30jähriger Krieg, denken Sie an unsre Mariensäule, denken wir an den 11. September, wenn es uns die Luft abschnürt, wenn wir sprachlos werden, weil uns der Atem stockt. Und immer, das können wir von den Romantikern lernen, sind es einzelne Menschen, die vom Schicksal betroffen sind, Frauen, Kinder, Flüchtlinge, die Underdogs, die auszubaden haben, was andere verbrochen haben. Als einzelner Mensch hat sich Gott in Jesus Christus in die Menschheit hineinbegeben und durch das Kreuz den Sieg gebracht, den Hauch der Hoffnung über allen Tod hinaus, den Atem des Beistandes, gerade hier in der Dreifaltigkeitskirche, die heute zur Verwaltungszentrale der Ortskirche von München und Freising gehört. Und manchmal hat man ja auch den Eindruck, der Kirche geht die Luft aus, gälische Traditionalisten streiten wie im Schottland des König Jakob gegen anglisierte Modernisten.

Ave Maria, meditativer Ruhepol – ein Gesang verzweifelten Flehens, aber auch voller inniger Hoffnung. Bei Mariengebeten handelt es sich ja nicht um ein Beten zu Maria, sondern um ein Beten mit Maria, und die Bitte an Maria, für unsere Nöte bei Gott zu beten. Mariengebete sind Ausdruck eines Glaubens, dass die Gemeinschaft aller Gläubigen, von und in der die Kirche lebt, Raum und Zeit überschreitet. Mit Maria dürfen wir hoffen und beten, dass wir bei ihm geborgen sind, dass uns nichts schaden kann, und dass er uns am jüngsten Tag in den Atem der Ewigkeit holt und unsere Stimmen zu seinem Lob wieder erschallen.

Die Ballade von Scott hat übrigens ein Happy End: Das Gebet der jungen Ellen wird erhört; der König versöhnt sich mit ihrem Vater und Ellen kann den geliebten Ritter heiraten.

Hören wir nun aber mit geistlich geschulten Ohr die Schubertsche Komposition in der liturgischen Textvariante des englischen Grußes.


II. Let it be


Schuberts Ave Maria …

Verehrte Freunde geistlicher Musik, vor einiger Zeit hatte ich die Ehre, eine geistliche Interpretation zu einem vermeintlich marianischen Lied vorstellen zu dürfen, das aber kein solches ist: Schuberts berühmtes Ave Maria. Es ist eigentlich eine Ballade aus einer dramatischen Vers-Erzählung des englischen Dichters Sir Walter Scott, in der es um Grenzkriege, Geiselnahme, ethnische Konflikte geht. Im Zentrum steht das Gebet der Tochter eines verschleppten Rebellen, ein Szenario, das heute im Irak oder in Afghanistan seinen Sitz im Leben hätte. Die Ballade heißt »The lady of the lake«: »Die Frau vom See«. Hintergrund sind die Kämpfe zwischen gälischen Traditionalisten in Schottland und dem anglikanischen Königshaus von England unter Jakob V. Irgendwann hatte jemand die Idee, dem Originaltext das lateinische Ave Maria zu unterlegen. Seitdem ist dieses von den Fachleuten eher als simpel gestrickt eingeschätztes Opus nicht mehr aus der Schatztruhe für Trauungen und Requien wegzudenken – ähnlich wie inzwischen das »Halleluja« von Leonard Cohen oder »I did it my way« mit dem unvergessenen Frank Sinatra.

… und das »Let it be« der Beatles

Was hat das mit dem heute zu besprechenden Lied »Let it be« von den Beatles gemeinsam? Abgesehen von der eher zufälligen Parallele zum Brexit-willigen England gegen die widerspenstigen Schotten habe ich eine persönliche Erfahrung mit diesem Lied beizutragen:

Ich habe von 1980 bis 1985 in Rom im Collegium Germanicum meine Priesterausbildung absolvieren dürfen. Ich erinnere mich gut, dass ein älterer, schon zum Priester geweihter Mitstudent, den Einfall hatte, eine Maiandacht zum Thema »Let it be« zu gestalten. Grundlage der besinnlichen Gedanken dazu war eben dieses Lied, bzw. vor allem der Liedtitel »Let it be«. Er hat es übersetzt mit »Lass es geschehen«, in Anlehnung an die Antwort Mariens an den Verkündigungsengel: »Siehe, ich bin eine Magd des Herrn – mir geschehe nach Deinem Wort!« »Let it be« – »Lass es geschehen, lass es so sein!« Manchmal hört man auch die Auslegung »Lass es sein« im Sinne von »Lass es bleiben« oder gar »Lass es nicht geschehen« – aber das wäre ein grobes Missverständnis des Liedtextes. Scheinbar tut man sich aber schwer mit der Übersetzung; in einer halboffiziellen Ausgabe der Beatles-Songtexte auf Deutsch wird ganz frei übersetzt mit »Nimm’s dir nicht so zu Herzen!«

Wie kommt man denn auf eine solche Variante? Sie hat jedenfalls einen tieferen Sitz im Leben als die marianische Zuordnung. Die Worte »Let it be« stammen nämlich zwar auch von einer Mutter Mary, aber dabei handelt es sich nicht um die Gottesmutter, sondern um die Mutter von Paul McCartney, die ganz einfach Mary hieß!

Bei »Let it be« handelt es sich also noch weniger um ein Marienlied wie bei Schubert. Paul McCartney wusste aber um dieses Missverständnis und wurde öfter daraufhin angesprochen. Bevor wir uns aber mit der Frage beschäftigen, ob dieses Lied nicht doch einen geistlichen, religiösen Gehalt vorweisen kann, müssen wir den Hintergrund dieses Liedes etwas beleuchten.

Religiöse Anspielungen in Popsongs

Obwohl mir diese Tatsache schon bekannt war, dass weder der Song »Let it be« noch der andere Hit »Lady Madonna« etwas mit der Muttergottes zu tun haben, kam mir bei der Vorbereitung dieses Vortrags der glückliche Umstand zugute, dass vor einigen Tagen von einem namhaften Redakteur des Kölner Domradio, Renardo Schlegelmilch ein Buch veröffentlicht wurde, in dem er genau solche Songs untersucht und bespricht, die in der großen Geschichte des Pops Spitzenplätze erreicht haben und mit religiösen Anspielungen, Andeutungen und vielleicht auch echten Glaubensaussagen zu tun haben (vgl. Renardo Schlegelmilch, If you believe – Religion in Rock- und Popmusik, Würzburg 2017). Das berühmte »Stairway to heaven« von Led Zeppelin ist genauso dabei wie »Hymn« von Barcley James Harvest, das immer noch in Jugendgottesdiensten gespielt wird, obwohl es ein Hymnus sein soll, der zwar durchaus christliche Glaubenssätze zitiert, aber auch mit der Akzeptanz von Drogen zu tun hat, die der angeblichen Bewusstseinserweiterung dienen. In der Welt des Pop und Rock ist dies ja nichts neues – die Beatles sind ja auch nach Indien gefahren, um sich von Gurus neue Horizonte aufzeigen zu lassen – welches Räucherzeug dabei eine Rolle gespielt hat, mag man dahingestellt lassen.

Mütterlicher Trost


Was ist also der genaue Hintergrund für den Song »Let it be«, den Paul McCartney geschrieben hat? Betrachten wir folgende Worte alleinstehend und ohne Kontext: »In den Zeiten der Verzweiflung spricht Mutter Mary zu mir, mit Worten voller Weisheit. In meiner dunkelsten Stunde steht sie an meiner Seite. In der düsteren Nacht gibt es ein Licht, das mich begleitet bis zum Morgen.« Das ist ein Text, der einem Psalm, oder mit Bezug auf Maria, einem Evangelium entstammen könnte. Tatsächlich sind es aber Worte von Paul McCartney. Nach seiner eigenen Aussage haben sie überhaupt nichts Religiöses. Es geht um seine Mutter, Mary McCartney, die gestorben ist, als Paul nur 14 Jahre alt war. Eines Nachts sei sie ihm im Traum erschienen und habe ihm in schwerer Stunde Trost gespendet. Und genau dafür ist auch das Lied da: Trost spenden. »Let it be« – nun besser zu übersetzen mit »Lass es gut sein« als »Lass es sein«, spricht davon, sich nicht an den schweren Momenten im Leben kaputt gehen zu lassen, sondern durchzuhalten. Ganz konkret ist das auch auf die Bandgeschichte der Beatles anzuwenden. Eigentlich sollte ihr letztes Album »Get back« heißen und das ganz große Comeback der vier Jungs werden. Handgemachte Musik wie ganz am Anfang sollte es werden, und nicht wie das in penibelster Kleinarbeit produzierte »White Album«. Trotzdem ließen sich die Konflikte der Musiker nicht überwinden. Die Band ist getrennte Wege gegangen. Die Demo-Aufnahmen für »Get back« wurden dem Starproduzenten Phil Spector in die Hand gedrückt, der sie ohne Beteiligung von John, Paul, George und Ringo fertig produzierte und 1970 veröffentlichte. Dann aber unter dem passenden Abschiedstitel »Let it be«, »Lasst es gut sein«.

Obwohl McCartney auf seine Mutter verweist und betont, dass das Lied nichts mit der Mutter Gottes zu tun hat, wird das Lied immer wieder als Beweis für die Religiosität der Beatles angebracht. Glauben sie nun, oder glauben sie nicht? Der Text zu »Let it be«, liefert da zwar Anhaltspunkte, aber die Frage ist nicht so einfach mit ja oder nein zu beantworten.

Religiöse Sozialisation und spirituelle Suche

Die Hälfte der Beatles ist katholisch getauft. Genauer gesagt Paul McCartney und George Harrison. Das ist ungewöhnlich, da die anglikanische Kirche in England seit Jahrhunderten Staatsreligion ist und die Katholiken in diesem Fall in der Minderheit sind. Die Antwort liefert hier aber die Heimatstadt der Fab Four. Liverpool ist, oder war in den 50ern, eine typische Arbeiterstadt mit vielen Einwanderern. In diesem Fall sind es die vielen Iren, die in die katholischen Gemeinden gegangen sind. Eine davon war St. Peter im Liverpooler Ortsteil Woolton: die Kirche, die Familie McCartney regelmäßig besucht hat. Mutter Mary war dabei besonders überzeugt. Vater James, von Hause aus Protestant, hat sich nicht viel um das Thema Religion geschert. Der junge Paul wurde, was diese Themen anging, auch hauptsächlich von seiner Mutter geprägt, die ihn allerdings nach keiner bestimmten Konfession, also nicht explizit katholisch, erzogen hat. Trotzdem spielt die katholische Kirche St. Peter Woolton, wo McCartney übrigens als junger Mann auch im Kirchenchor gesungen hat, eine signifikante Rolle für die Beatles. Beim Gartenfest der Gemeinde am 6. Juli 1957 haben hier das erste Mal Paul McCartney und John Lennon in einer kleinen Schülerkombo gespielt. Der Grundstein für die Beatles. Ein Umfeld, das Paul McCartney geprägt hat. 1984 wird er über sein Jugend-Umfeld sagen: »Das waren die besten Menschen, die mir je begegnet sind. Besser als Präsidenten und Premierminister. Einfache Menschen, die jedes Problem, das kommt, angehen und lösen. Für mich sind sie das Salz der Erde.« Zumindest also in die Sprache von McCartney hat der Glaube sich schon mal eingeschlichen.

Aber warum machen wir uns es nicht ganz einfach und fragen die Musiker selber, woran sie glauben oder nicht? Das Magazin »Playboy« hat genau das getan, im Jahr 1964. Die Antwort: »Wir glauben nicht an Gott.« Der Satz kommt von Paul McCartney. John Lennon schiebt allerdings hinterher »Wir wissen nicht ganz, woran wir glauben, ich würde uns eher als Agnostiker bezeichnen, nicht als Atheisten.« Es war auch zu dieser Zeit, der zweiten Lebenshälfte der Band in den späten 60ern, in der die Musiker sich aufgemacht haben nach einem anderen Sinn im Leben zu suchen. Alle vier sind zusammen für eine Weile nach Indien gegangen und ließen sich dort von einem Yogi unterweisen.

John, Paul und Ringo hat das wohl nicht dauerhaft beeindruckt, George Harrison blieb aber bis zu seinem Tod 2001 Anhänger der Hare Krishna-Bewegung. John Lennon, der aufgrund seines Songs »Imagine« als Ikone des Atheismus gesehen wird, hat auch bis zu seinem Tod immer wieder Bezüge zu Gott und Glauben in seine Musik eingebaut. Ringo Starr findet in seinem späten Leben auch wieder zum monotheistischen Glauben zurück. Vor ein paar Jahren hat er noch gesagt: »Ich suche schon seit den 60ern nach Gott. Für viele Jahre habe ich den Weg verlassen, aber inzwischen wieder, Gott sei Dank, zurückgefunden. Gott ist ein Teil meines Lebens, und davor verstecke ich mich nicht.«

Und Paul? Er spricht von seinem »ganz persönlichen Glauben an das Gute«, der sich nicht in eine Konfession oder Religion verpacken lässt. Fügt allerdings hinzu: »An Jesus glaube ich, das war eine historische Person.«

Hoffnung in schweren Stunden

Auch wenn sich die Zeilen von »Let it be« also nicht auf die Mutter Gottes beziehen, erfüllen sie trotzdem den Zweck eines Gebetes: Trost und Hoffnung zu spenden in schweren Stunden. Und wenn der Autor der Zeilen dann noch auf der Suche nach einem Lebenssinn ist und vom Glauben an die historische Person des Messias spricht, dann kann man schon sagen, dass in der Musik der Beatles einiges an Religion steckt. Persönlich zählt dieses Lied zu meinen Lieblingssongs, zumal es relativ einfach, aber wirkungsvoll geschrieben ist. Das Lied hat eine einfache Harmonisierung und Begleitung. Die ursprünglich extrem hohe Oberstimme des Originals ist nur auf der Single-Edition erhalten, später wurde sie in den Hintergrund gemixt. Den Schlusston wollte Paul McCartney noch oktavieren; da musste aber seine Frau Linda aushelfen, weil es ihm zu hoch war. Eine Referenz an seine Mutter und ihrem Beistand vom Himmel?

Der Text ist auch eher einfach gestrickt. Mir gefällt besonders die Alliteration im Refrain, wenn es heißt: »Wispered words of wisdom«, »wispert, flüstert Worte der Weisheit«. Gerade in unsrer lauten marktschreierischen Zeit tut ein leiser, verhaltener Song sehr gut. Die Stelle erinnert mich an die Gotteserfahrung des alten Propheten Elija: Der Herr war nicht im Sturm, nicht im Erdbeben, nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes leises Säuseln (vgl. 1 Kön 19, 11f ). Erst im Säuseln spricht der Herr zum Propheten. Weisheit hat nichts mit Lautstärke zu tun. Sie kommt aus der Mitte: Träume haben ihre Wahrheit in der Mitte der Person. So kann die Mutter dem Kind in Zeiten der Orientierungslosigkeit die notwendige Ermutigung geben. Es wäre interessant zu untersuchen, inwieweit geistliche Erfahrung mit Müttern zu tun hat: von unseren eigenen Müttern können wir einen Bezug finden zur Mutter Gottes und zur Mutter, die die Kirche und der Glaube zu uns sein soll.

Maria und ihr »Lass es geschehen«

Bei der Mutter Gottes finden wir im Evangelium nicht nur einen Bezug, in dem Maria für dieses »Let it be« steht: »Lass es geschehen, lass es gut werden, lass es neue Wirklichkeit sein.« Da ist die Verkündigung, der Dialog mit dem Engel Gabriel: »Mir geschehe nach deinem Wort.«

Das erfahren wir beim Magnifikat: »Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter; denn er hat Großes an mir getan.« – »Lass es geschehen«: Er ist der Gott, der die verdrehten Verhältnisse der Welt wieder ins rechte Lot bringen kann. Die Reichen stürzt er vom Thron, die Hochmütigen verlieren allen Grund für ihren Stolz – die Kleinen und Hungrigen werden satt und bedeutend – die Satten gehen leer aus.

Als dritte Referenz gebe ich die Hochzeit zu Kana an. Noch brüsk abgewiesen von ihrem Sohn – »Frau, meine Zeit ist noch nicht gekommen – liebe Mutter, nerv mich nicht, da geschieht jetzt nichts – da sagt sie, »Let it be«: Was er euch sagt, das tut! »Let it be«: Glaube macht neues Geschehen, neuen Wein möglich. Wir können auch an die Wunderheilungen Jesu denken, vor allem wenn er es ist, der fragt: Was willst du, dass ich es dir tue? »Let it be«, »Lass es geschehen, dass ich gesund werde!« »Dein Glaube hat dir geholfen.« Auch Jesus spricht immer wieder sein »Let it be«: im Garten Getsemani, am Kreuz, im Vater Unser (»Dein Wille geschehe«). Was wird sich Maria unter dem Kreuz gedacht haben, als Jesus ihr Johannes als Sohn zuweist: »Let it be«?

Mütterliches Erbarmen

Sowohl für Paul McCartney als auch im Zeugnis des Evangeliums ist die Mutterbeziehung tragfähig über den Tod hinaus. Das biblische Wort für Erbarmen kommt vom hebräischen rachamim, was den Mutterschoß bedeutet. Die Mutter steht für Rat, für Weisheit, für Trost, für eine Liebe, die keine Mauern kennt. Paul McCartney hatte in seiner Biographie offenbar eine Mutter erlebt, die diesem Ideal weitgehend entsprach, auch wenn sie früh verstorben war. Bei unseren Müttern mag es sich ganz ähnlich verhalten haben – freilich hat nicht jeder Mensch dieses Glück.

Die »Mutter Kirche« erfahren wir in unseren Biographien sehr unterschiedlich. Vor allem weil sie sich in konkreten, geschichtlichen Personen darstellt, in Männern und Frauen der Kirche, auch der Amtskirche, die von dem vorgestellten Ideal manchmal weit weg sind. Da heißt es oft statt »Let it be«: »Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!«

Dennoch machen viele Menschen Gottseidank in unseren Gemeinden und Bistümern die Erfahrung, dass die Kirche ein Ort für Vertrauen für die sagenhafte Verheißung ist, dass der Tod und die Todeszeichen dieser Erde überwunden werden können. Ich kann und soll zwar mein Scherflein beitragen, soll mich engagieren und aktiv beteiligen, doch ich kann mit großer Gelassenheit vertrauen, dass ich auch durch die Gottesmutter bei Gott gut anempfohlen bin, dass ich die Welt nicht retten muss, dass ich allem, was geschieht, nicht hilflos gegenüberstehe, und dass ich der Kunst, die Papst Johannes XXIII. gelehrt hat, folgen darf: mich selber nicht zu wichtig zu nehmen. Hören wir diesen einfachen und großartigen Song, der für uns eine Analogie enthält, die für Trost und Glaubensmut steht.

Martin Cambensy

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