Vorbemerkung der Redaktion: Die Heiligen Vierzig Tage vor Ostern sind eine Zeit der Bestandsaufnahme und Neuorientierung. Wir werden herausgefordert zu einem geistlichen »Hausputz«, zu einem kritischen Blick auf manches Angestaubte und Unpassende, und mit der Frage konfrontiert, wohin wir gehören und wem wir angehören. Mit Blick auf die Passion, den Tod und die Auferstehung Christi können wir Raum finden für das Schöne und Schwierige, Beglückende und Leidvolle, Wichtige und scheinbar Überflüssige unseres Lebens und eine neue, österliche Perspektive suchen. Die folgenden drei Kurzansprachen ermutigen zu dieser Verortung der Glaubenden in der Gegenwart des lebendigen Gottes.
1. Seinen Platz finden
Am Anfang dieses Jahres sind wir umgezogen. Das war eine ganze Menge Arbeit. Vor allem, weil wir in der Wohnung noch alle Böden und Wände neu machen mussten. Mittlerweile sind die Bücher in den Regalen, das Geschirr im Schrank und der Alltag klappt wieder. Trotzdem gibt es ein paar Dinge, die liegen noch in den Kisten. Das alte Bild von meinem Bruder und mir, das jahrelang bei der Oma im Schlafzimmer hing. Die kleine Tonskulptur, die mir mein Pfarrer geschenkt hat. Unser Hochzeitsfoto … Ich merke, diese Dinge kann ich nicht einfach irgendwo hinstellen oder aufhängen. Sie brauchen einen Platz in der Wohnung, einen, der zu ihnen passt. Und den habe ich noch nicht gefunden.
Das mit dem passenden Platz stimmt nicht nur bei Dingen. Es geht mir auch so, wenn ich etwas Wichtiges zu erzählen habe. Ich komme nicht auf die Idee, der Kassiererin beim Einkaufen von einem Berufserfolg zu erzählen oder dem Nachbar im Treppenhaus von meiner Traurigkeit. Hier wäre es fehl am Platz. Am Abend, dann, wenn Zeit dafür da ist, spreche mit meiner Frau oder rufe meinen Bruder an oder einen guten Freund. Es muss jemand sein, der mich kennt und der mir zuhört. Dann weiß ich: Meine Freude oder meine Traurigkeit hat jetzt einen guten Platz.
Der ehemalige Aachener Bischof Klaus Hemmerle geht noch einen Schritt weiter. Nicht nur Sachen und Dinge, nicht nur Gedanken und Gefühle, nein, vor allem unser Herz braucht einen passenden Platz. Es braucht einen Ort, wo es gut aufgehoben ist. »Dein Herz an Gottes Ohr«, schreibt er. Das klingt erst mal sperrig. Aber der Bischof ist sich sicher: Gottes Ohr ist der richtige Platz für mein Herz. Er hat sein Ohr, seine ganze Aufmerksamkeit bei mir. Und noch mehr: Er hört nicht nur die Worte, die ich vielleicht bete, er hört auch all das, was dahinter steckt. Gott hat sein Ohr an meinem Herzen. Ich finde das eine wunderbare Vorstellung – besonders für Zeiten, in denen ich danach suche, was für mein und unser Leben passend ist; Zeiten, in denen sich das Leben neu sortiert; Zeiten, in denen neues anfangen will – auch wenn ich noch keine passende Worte dafür finde.
2. Raum finden zum Abladen
Ein Student kommt vollbeladen die Treppe hoch und legt im Vorübergehen sein Zelt in einem Raum ab. Ich wundere mich, denn der Raum ist die Hauskapelle der Hochschulgemeinde und ein Zelt hat da eigentlich nichts zu suchen. Es ging aber noch weiter: In der Kapelle entdecke ich einen Wäscheständer mit Wäsche drauf, und ein Bügelbrett, außerdem ein Regal mit allem Möglichen, von Gesangbüchern bis hin zu Blumentöpfen. Die Kapelle sieht ein bisschen aus wie ein Abstellraum. Sehr befremdlich, finde ich, aber dann wird mir klar: Hier ist Pragmatismus im Spiel. In den letzten Wochen gab es keine Leitung im Haus und da haben die Studenten den Raum als den einzigen Raum im Haus entdeckt, der nicht voll ist. Hier ist Platz – für die Dinge, die nicht ins eigene Zimmer passen und für die Dinge, die im Weg stehen und hinderlich sind – wie das Zelt zum Beispiel. Die Botschaft, die bei mir ankam war klar: In der Kapelle kannst du abladen!
Eigentlich eine starke Botschaft, denke ich und muss schmunzeln, denn in gewisser Weise geht es mir ganz ähnlich: Wenn ich in manchen Kirchen oder Kapellen sitze und etwas Zeit habe, dann spüre ich, dass hier wirklich Platz ist: für meine Unruhe, wenn ich mit der Arbeit nicht nachkomme, für meine Fragen und die Dinge, die ich nicht verstehe, und auch für meine Dankbarkeit, die ich dann oft wieder spüren kann. In diesem Sinn finden viele Menschen in Kirchen und Kapellen Platz zum Abladen und oft sehe ich dort abends noch Kerzen brennen, die während des Tages angezündet wurden – vielleicht als Zeichen für eine zurückgelassene Sorge oder ein Gebet, für das im Alltag kein Platz war.
Mittlerweile gibt es auch in unserer Hauskapelle in der Hochschulgemeinde wieder Platz: Wäscheständer und Bügeleisen mussten ebenso weichen wie das Regal und einige andere Dinge. Jetzt kommt das große Relief an der Wand wieder voll zur Geltung: Es zeigt Jesus mit seinen Jüngern beim Letzten Abendmahl. Alle sind eng miteinander verbunden und doch blickt Jesus den Betrachter aufmerksam und offen an. Mir wird klar: Jesus teilt Brot und Wein nicht nur mit seinen Jüngern. An seiner Seite ist Platz – auch für mich, mit meinem Leben.
3. Einen Ort finden im Angesicht des Gekreuzigten
»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Diese Worte werden wir in der Karwoche wieder im Gottesdienst hören – es sind die letzten Worte Jesu, bevor er am Kreuz stirbt. Zumindest berichten so die Evangelisten Markus und Matthäus. Warum musste Jesus so sterben? Wie kann ich das verstehen?
Während meines Studiums habe ich zum ersten Mal die Kreuzigungsszene auf dem Isenheimer Altar gesehen. Matthias Grünewald hat dieses Altarbild im 15. Jahrhundert gemalt. Jesus hängt schmerzhaft entstellt am Kreuz, die Finger an den blutenden, ausgezerrten Armen sind verkrampft, das Gesicht zeigt einfach nur Schmerz und sein Körper ist übersät mit Pestbeulen und eitrigen Wunden. Nicht nur dass das Bild abgründig und ungeschönt ist, der Maler hat Jesus auch die Pest angehängt. Das fand ich beeindruckend, denn die Pest hat ursprünglich mit Jesu Tod überhaupt nichts zu tun. Sie war ja die große Bedrohung im Mittelalter, sie war der schwarze Tod, dem die Menschen in Europa schutzlos ausgeliefert waren. Ein Drittel der Bevölkerung hat sie hinweggerafft. Und der Maler Grünewald hängt Jesus die Pest an. Er hängt sie sozusagen mit ans Kreuz.
Wie mag das auf die Menschen gewirkt haben? Ich stelle mir vor, wie sie in den Kirchenbänken sitzen und dieses Altarbild sehen: Jesus, der übersät ist mit Pestbeulen. Und darunter – die Gaben, Brot und Wein, die der Priester im Gottesdienst segnet. Vielleicht haben sie dabei gespürt, dass der Tod Jesu etwas mit ihnen zu tun hat. Vielleicht haben sie gespürt, dass er nicht nur Brot und Wein, sondern auch ihre Sorge und ihre Angst teilt. Und vielleicht war das auch ein Trost für sie. Ich weiß es nicht.
Das Altarbild von Matthias Grünewald sähe heute anders aus – zumal hier in Europa. Die Pest würde nicht mehr mit am Kreuz hängen, dafür aber die Verzweiflung der Flüchtlinge und die Trauer der Opfer in den Kriegen unserer Zeit. Am Kreuz würden wir die Wut und Niedergeschlagenheit der Arbeitslosen finden und gleichzeitig die Ängste und Rastlosigkeit derer, die mit dem unbarmherzigen Tempo der Berufs- und Arbeitswelt nicht Schritt halten können. Überforderte und gescheiterte Beziehungen fänden wir am Kreuz ebenso wie die Perspektivlosigkeit derer, die in unserer Gesellschaft scheinbar nicht mehr gebraucht werden. Schließlich hinge da unsere – meine, deine – ganz persönliche Not. Was würde ich in diesen Tagen zu Jesus mit ans Kreuz hängen? Wie würde ich das Bild des Gekreuzigten zeichnen?
Ich bin mit der Frage, wie ich Jesu Tod verstehen kann, nicht fertig. Aber mir ist klar geworden, dass er das Leid derer teilt, die trauern und verzweifeln. Zumindest hoffe ich das und bete, dass es die Menschen spüren, deren Not ich nicht begreifen kann.