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Leseprobe 2 |
15. Sonntag im Jahreskreis |
I. Wir können Barmherzigkeit – immer besser! (Dtn 30,9c–14, Lk 10,25–37) |
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Das Elend einer Kreatur kann uns anrühren. Zum Beispiel mitten in den Nachrichten. Oder bei einem Krankenbesuch. Wenn jemand herzzerreißend weint. Oder wenn ein verletztes Tier sich windet – egal, ob es ein Vierbeiner ist oder ein Insekt. Es ist gut, wenn wir uns anrühren lassen können. Das Lukasevangelium hält dies für wesentlich. Das scheint dazu zu passen, was als »typisch christlich« gilt. Doch das Beispiel vom barmherzigen Samariter ist tiefgründig – schauen wir genau hin.
Kein neues Gebot
Zur Zeit Jesu gibt es verschiedene jüdische Gruppen. Einige halten den Tempel in Jerusalem mit all seinen Ritualen für wesentlich. Andere meinen: Wesentlich ist das Leben mit Gottes Geboten. Zu ihnen gehört Jesus mit seiner Botschaft. Heute hören wir von einem Gespräch zwischen Jesus und einem Gesetzeslehrer. Der will wissen, wie er das ewige Leben erben kann. Jesus lässt den Gesetzeslehrer aus der Tora zitieren: Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst, das ist wesentlich. Da sind sich die beiden Juden einig. Der Gesetzeslehrer will es genau wissen: Wer ist mein Nächster? Da erzählt Jesus das Beispiel vom barmherzigen Samariter.
Drei Juden gehen von Jerusalem nach Jericho: ein Priester, ein Levit und ein Samariter. Zur Zeit Jesu sind die Samariter bei der jüdischen Mehrheit nicht gut gelitten. Die Samariter erkennen den Tempel in Jerusalem nicht an. Dem Priester und dem Leviten ist der Jerusalemer Tempel mit all seinen Gottesdiensten heilig. Wenn sie von Jerusalem nach Jericho gehen, ist ihr Gottesdienst zu Ende. Er hat keine Auswirkungen, wenn ihnen jemand vor die Füße fällt, der Hilfe braucht. Für den Samariter hat der Jerusalemer Tempel keine Bedeutung. Aber der Samariter erfüllt das Gesetz, indem er das tut, was dran ist.
Das Beispiel vom barmherzigen Samariter atmet Distanz zum Jerusalemer Tempel. Es ist auch ein Stück Kultkritik, wie sie die Psalmen und Propheten im Alten Testament formulieren: Was nützen Gottesdienste im Tempel, wenn es draußen an Barmherzigkeit fehlt? Mit dem Beispiel vom barmherzigen Samariter formuliert Jesus kein neues Gebot. Er bekräftigt das alte jüdische Gesetz, die Tora.
Dieses Gebot ist nicht fern von dir!
»Dieses Gebot geht nicht über deine Kraft!« Das haben wir in der Lesung aus dem Buch Deuteronomium gehört. Das Deuteronomium ist Teil des jüdischen Gesetzes, der Tora. Bei »Gesetz« denken wir oft an dicke Bücher und komplizierte Formulierungen, die das Leben schwer machen. Im Alten Testament begegnet uns die Vorstellung: Es geht nicht um starre Worte, egal ob in Stein gemeißelt oder auf Schriftrollen geschrieben. Der eigentliche Ort des Gesetzes ist ein anderer: das Innere des Menschen – so auch in der heutigen Lesung: Die Tora ist nicht weit weg, weder im Himmel noch auf der anderen Seite des Meeres. »Das Wort ist nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten!« So poetisch und tiefsinnig ist ein Gesetzestext aus dem Alten Testament!
Wenn etwas in unserem Mund und in unserem Herzen ist – da sind wir geübt, das Passende zu tun. Das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Es ist nicht anstrengend und überfordert uns nicht. Wir können das.
Wenn der barmherzige Samariter den Verwundeten sieht, steht da wörtlich im Griechischen: Seine Eingeweide werden angerührt. Im Deutschen ist von Mitleid die Rede. Aber der barmherzige Samariter leidet nicht. Wir könnten mit unserer Lesung sagen: Gottes Gebot ist ganz nah bei ihm, in seinem Inneren, in seinen Eingeweiden. Er weiß, was zu tun ist – nicht nur mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch, mit Fleisch und Blut, mit Herz und Hand. Routiniert und souverän.
Dieses Gebot geht nicht über deine Kraft!
Wir könnten das Beispiel vom barmherzigen Samariter in den falschen Hals bekommen. Wir könnten überall halbtote Verwundete entdecken, an denen andere vorbei gehen. Um beim Bild von den Eingeweiden zu bleiben: Wir könnten Bauchschmerzen bekommen. Dann wäre unser Mitleiden doch wieder ein Leiden … Ist das christlich?
Es gibt eine moderne Fortsetzung der Beispielerzählung Jesu. Der Samariter geht ein zweites Mal von Jerusalem nach Jericho. Wieder findet er einen Verwundeten. Wieder verarztet er ihn und bringt ihn in die Herberge. Er geht ein drittes Mal denselben Weg. Und wieder liegt einer da. Beim vierten und fünften Mal ebenso. Er fragt sich, wie lange er wohl noch die Herberge bezahlen kann. Als er beim fünfundsiebzigsten Mal wieder auf einen Verwundeten stößt, ist er längst ein Meister im Verbinden. Er hievt gekonnt den Mann auf sein Reittier. Das kennt den Weg zur Herberge inzwischen alleine. Der Samariter vertraut darauf: Auch der Wirt weiß, was zu tun ist. Er selber hat beschlossen, erst einmal in der Wüste Juda zu bleiben. Er hat Verbündete gefunden und will mit ihnen ein Räubernest ausheben. Er ist der Meinung, dass er dann ein noch viel besserer barmherziger Samariter ist.
Fazit: Übung macht den Meister. Wer sich innerlich nicht anrühren lassen kann vom Elend, ist nicht im Kontakt mit sich und anderen. Und: Es ist gut, wenn wir unseren gesunden Menschenverstand dabeihaben. Wann ist Erste Hilfe nötig? Wann geschieht Raubbau an den eigenen Ressourcen? Wann ist es dran, Ursachen zu bekämpfen, anstatt Pflaster zu verteilen? Bauchschmerzen aus Mitleid sind nicht christlich! Womöglich steckt dahinter die verständliche Sehnsucht nach Anerkennung … Auch diese Sehnsucht kann zur Sucht werden. Die Zusage der Lesung gilt: »Dieses Gebot geht nicht über deine Kraft!« Es ist gut, wenn wir uns weder über- noch unterschätzen.
Eine andere Perspektive
Am Ende fragt Jesus den Gesetzeslehrer: Wer von den dreien ist dem der Nächste geworden, der unter die Räuber gefallen ist? Eigentlich wollte der Gesetzeslehrer doch etwas ganz anderes wissen: Wer ist mein Nächster? Jesus dreht die Frage um. Er verändert die Perspektive: Es geht gar nicht darum, wer Objekt unserer Nächstenliebe ist. Es geht darum, dass wir selber der oder die Nächste für andere sind. Nächstenliebe ist keine Frage des Objekts, sondern des Subjekts. Wir selber sind gefragt, nahe zu sein, näher zu kommen, zum bzw. zur Nächsten zu werden. Das können wir. Das können wir reflektieren und trainieren: mit lebendigen Eingeweiden, die sich anrühren lassen. Mit Achtsamkeit, was in der Situation dran ist. Das geht nicht über unsere Kraft. Das ist ganz nah bei uns – auch wenn wir nach diesem Gottesdienst auf dem Weg sind wie der Priester und der Levit – mit dem Samariter als Vorbild in unserem Inneren. Ja, wir können Barmherzigkeit – immer besser!
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Hildegard Gosebrink |
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