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Leseprobe 2
Impulse zur Fastenzeit

I. Lob des Vergessens


Vorbemerkung der Redaktion: Die folgende Predigt bezieht sich auf die beiden Lesungen, die für den 5. Fastensonntag im Lesejahr C vorgesehen sind ( Jes 43,16–21; Phil 3,8–14). Sie eignet sich auch als Impuls oder Meditation bei Wort-Gottes-Feiern oder Besinnungszeiten in den Heiligen Vierzig Tagen. Die beiden Lesungen könnten dann an den mit * gekennzeichneten Stellen eingeschoben werden.

Vergiss es!


Vergiss es! Da kommt nichts mehr. Meine Hoffnung ist ausgebrannt. So viel habe ich investiert an Aufmerksamkeit, Förderung. Es hätte doch etwas dabei rauskommen müssen. Vergiss es! Diese Geschichte schleppt sich nur noch so dahin. Setzen wir endlich einen Punkt dahinter. Schließen wir’s ab, damit wir den Kopf wieder freibekommen! Man möchte das Loblied des Vergessens aus der Fledermaus anstimmen, wenn einem zum Singen wäre: »Glücklich ist, wer vergisst – was doch nicht zu ändern ist.« Ernsthafter, aber nicht weniger entschieden als Johann Strauß machte sich sein Zeitgenosse Friedrich Nietzsche zum Anwalt des glücklichen Vergessens: »Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glück ist es immer eins, wodurch Glück zum Glück wird: das Vergessen-Können.« Sogar eine entsprechende Seligpreisung hat Nietzsche auf Lager: »Selig sind die Vergesslichen: denn sie werden auch mit ihren Dummheiten ›fertig‹.« Nicht auch mit den Dummheiten der anderen? Und mit Irrtümern? Mit Illusionen? Mit falschen Hoffnungen?

Vergiss es! Da liegt Enttäuschung drin; vielleicht notwendige Enttäuschung. Sie wird mir helfen, mich von enttäuschenden Erfahrungen loszumachen, frei zu werden für Neues. So singt die moderne Kognitionsforschung das Lob des Vergessens: Es schafft in unserem Gedächtnis Platz für neue Eindrücke, neue Prägungen. Vergessen macht zukunftsfähig.

Aber das Gegenteil ist leider auch wahr: Wer die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, die eigenen Lebens-Katastrophen auf der inneren Festplatte möglichst rückstandsfrei zu löschen versucht, macht sich unverantwortlich. Ihn soll das nichts mehr angehen. Schlussstrich-Mentalität hat man es genannt und aus jüdischer Frömmigkeit dagegen gesetzt: Erinnerung erlöst – sich ihr zu stellen, sie nicht in der Verdrängung abtöten zu wollen.*

Impulse zur Fastenzeit

Der zweite Jesaja (Jes 43,16–21) spricht gut vom Vergessen, irritierend gut. Ob da nicht auch etwas verdrängt werden soll? Die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems, das Elend des babylonischen Exils: Wir hatten gedacht, das könnte uns nie passieren. JHWH ist doch mit uns! Mit dieser tiefen Ratlosigkeit und Enttäuschung quälen sich die Exilierten herum, zu denen der Prophet spricht, den wir Deuterojesaja nennen. Man wendet alles hin und her, findet einen prekären Trost in der Selbstbezichtigung: JHWH straft uns für unsere Sünde. Man kann nicht vergessen und macht sich zusätzlich runter. Wie gut wir das kennen! Mühsam erinnert man sich an gute Zeiten: an den Durchzug durch das Rote Meer. Aber wir haben es verdorben. Recht geschieht uns.

Vergesst es! »Denkt nicht mehr an das Frühere, achtet nicht auf das Vergangene! Seht, ich schaffe etwas Neues, schon sprosst es, merkt ihr es nicht?« (Jes 43,18–19) Das ist kein depressiver Tonfall. Deuterojesajas Gottesbotschaft ist eine ganz andere: Macht euch endlich frei, zu sehen, was schon kommt, was JHWH jetzt mit euch anfangen will. Hängt euch nicht ans Verlorene, sonst entgeht euch das Kommende!*

Neugierig auf das, was kommt


Paulus stimmt ein, in einer völlig anderen Situation freilich: »Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist« (Phil 3,13). Nicht dass er es schon am Schopf gepackt hätte, was da kommt. Aber das Ziel hat er vor Augen. Ein typischer Bekehrungstext: Ich lasse hinter mir, was ich war. Jetzt bin ich Gott sei Dank ein ganz anderer. Und das ist gut so. Wie gut, dass ich den vergessen darf, der ich war!

Darf ich, dürfen wir, sollen wir vergessen, was war? Das Lob des Vergessens ist nicht f lächendeckend, sondern nur für ganz bestimmte Lebens- und Geschichts-Situationen wahr. Man muss sich vorsehen, dass aus dem Vergessenwollen kein billiger, falscher Trost wird; dass man nicht vergessen machen will, was immer noch oder ganz neu dran ist.

Aber riskieren wir es mit der nötigen Vorsicht, das Lob des Vergessens in unsere Glaubens- und Kirchensituation hinein lautwerden zu lassen. Wie viel bergende Heimat hatten wir doch in diesem Haus, das voll Glorie schaute – weit über alle Land. Ja, aber wohin denn? War es vielleicht der selbstzufriedene Blick von oben her, der zu wenig sah, was da unten vorgeht? Schluss mit den Schuldzuweisungen. Da ist genug geredet und analysiert. Vergesst es jetzt! Sonst seht ihr nicht, was jetzt dran ist: Ein armer und einfacher Glaube vielleicht. Einer, der aus dem Zweifeln nicht so leicht rauskommt und den stärkenden Anderen braucht, das Mitglauben-Können braucht. Ja, einer vielleicht auch, der genau so einwurzeln kann, nicht vom Glanz der Oberf läche lebt. Seht ihr nicht, was da kommen will? Und: Wie stark war die Kirche in der Gesellschaft verankert; wie gut ausgebaut waren ihre Institutionen! Das sollte man nicht geringschätzen. Aber es ist nicht alles. Schaut ohne viel rückwärtsgewandte Nostalgie hin, wo jetzt vor uns Wege in der Steppe, Pfade in Wüsten sichtbar werden! Rechnet damit, dass Er sie uns bahnt!

Wir tun uns nicht leicht mit dem Vergessen, wenn es gute Erinnerungen sind. Aber wir können nicht immer nur von guten Erinnerungen leben. Die Neugier muss dazukommen, die der zweite Jesaja bei seinen Gefährten wecken will: Seht hin, Er schafft ganz Neues; schon keimt es. Merkt ihr es noch nicht?

Jürgen Werbick

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