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Die Schriftleitung
Leseprobe 1
Dreiundzwanzigster Sonntag – 5. September 2010
II. Der Grashalm im Beton (Phlm 4–20; Lk 14,25–33)

Zielsatz: Die Predigt möchte die Gemeinde mit der Geschichte des Onesimus vertraut
machen und diese als Motivation dafür nehmen, dass wir – nach dem Beispiel
des Paulus – als Sklaven Christi ›Sklaverei‹ in heutigen Formen aufspüren und bekämpfen.

Für Christus Jesus im Gefängnis
Erinnern wir uns eines zärtlichen Briefes, den wir erhalten oder geschrieben haben – wieviel Liebe, womöglich auch Sorge, hat sich darin ausgedrückt! Auch im Computer-Zeitalter sind solch persönliche Mitteilungen kostbar. Eben in der Lesung haben wir den größten Teil eines der schönsten Briefe der Christenheit gehört. Jede Lesung ist ja wie ein Brief aus vergangenen Zeiten an uns hier und jetzt, diese ganz besonders.
Paulus sitzt mal wieder im Gefängnis, vermutlich in Ephesus. Einziger Grund seiner Haft, die wir uns freilich nicht als geschlossene Anstalt vorstellen müssen, ist sein apostolischer Dienst. »Für Christus Jesus« ist er im Gefängnis – und auch dort ist er offenkundig unermüdlich missionarisch aktiv. »Ich, Paulus, ein alter Mann« – das dürfte durchaus biographisch zu verstehen sein. Aber ein presbyteros, ein Presbyter, ist, wörtlich übersetzt, immer »ein Älterer« – reicher an Erfahrung, älter, und in diesem Sinne Vorgesetzter durch die Beauftragung als Apostel.

Onesimus – ein Taugenichts oder ein Nützlicher?
Paulus hat im Gefängnis diesen Onesimus für den Glauben gewonnen – wörtlich heißt das: »gezeugt«. In der Übersetzung, die wir hörten, heißt es: »Ich bitte dich für mein Kind Onesimus, dem ich im Gefängnis zum Vater geworden bin« – geistliche Vaterschaft, geistliche Sohnschaft, Gottes Kindschaft. Dieser Onesimus ist ein entlaufener Sklave. Er ist seinem Besitzer und Chef Philemon davongelaufen. Manches spricht dafür, dass er nicht nur abgehauen ist, sondern auch noch Geld hat mitgehen lassen oder Besitz. Dieser Onesimus jedenfalls hat sich strafbar gemacht, Paulus hätte ihn längst zurückschicken können. Onesimus hätte die übliche Strafe bekommen können, bis hin zur Todesstrafe. Es gab damals richtige Jagdkommandos, die sich spezialisiert hatten auf das Wiederauffinden entsprungener Sklaven. Und nun ist dieser straffällige Sklave zum Christen geworden, zum Mitchristen. Voller Zärtlichkeit nennt ihn Paulus »mein Kind«, ja »mein eigenes Herz«.
Onesimus heißt wörtlich »der Nützliche, der Brauchbare«. Dieser entsprungene Sklave war ein Taugenichts und Tunichtgut, jetzt aber hat er seinem Namen Ehre gemacht, wortwörtlich. Er hat sich nützlich gemacht, und Paulus könnte ihn gut in seiner Umgebung brauchen, auch weiterhin.
Wie durchs Schlüsselloch bekommen wir Einblick in den christlichen Alltag der Urgemeinden – eine intime Momentaufnahme, die die verändernde Kraft des Evangeliums spüren lässt, auch jetzt und heute. Paulus könnte den Onesimus behalten, es wäre für ihn die eindeutig günstigste Lösung. Aber er will es nicht, denn auch Philemon, der Besitzer und Chef des Onesimus, ist ein Christ – vielleicht in Kolossae, ungefähr 60 km entfernt von Ephesus. Wie also gehen Christen mit Mitchristen um – und das in einer Sklavengesellschaft? Das ist die spannende Frage.

Auf gleicher Augenhöhe
Paulus könnte seine apostolische Autorität voll ausspielen und dem Philemon befehlen – aber genau das tut er nicht. »Ohne deine Zustimmung will ich nichts tun.« Der christliche Umgang miteinander basiert auf Freiwilligkeit, auf höchster Achtung. Das allein macht die unvergleichliche Kraft der Gemeinde und ihre Verkündigung aus. Wo es nicht freiwillig zugeht, wo nicht freiwillig Übereinstimmung erzielt wird, da ist die Gemeinde gelähmt und ohne Kraft – ein höchst aktueller Hinweis. Also Paulus, der alte und ältere Mitchrist, begegnet seinem Mitchristen Philemon als bittender und bedürftiger Mensch. »Deine gute Tat soll nicht erzwungen, sondern freiwillig sein.«
Ein Zweites fällt auf: Paulus nimmt die Sklavenstruktur der damaligen Gesellschaft als ganz selbstverständlich vorgegeben hin. Er ist kein sozialer Revolutionär, er rüttelt nicht an den Makrostrukturen der damaligen Gesellschaft. Aber gerade dadurch werden die Christen zum Spaltpilz in einer Sklavengesellschaft. Wie der Grashalm im Beton schließlich die ganze Decke sprengt, so hier das Evangelium. Paulus bittet Philemon – und schiebt eine ökonomisch interessante Begründung nach. Er will ihm den Onesimus, wohlgemerkt seinen Besitz, zurückgeben – aber mit einer ungeheuren Wertsteigerung. Denn dieser Sklave, der nun Christ geworden ist, ist ja »bezahlt mit dem Blut Christi«. Es geht nicht nur um den Menschen Onesimus »dem Fleische nach« wie es heißt – es geht jetzt um den Christen Onesimus, den Mitchristen, den »geliebten Bruder«, eine Wertsteigerung der unglaublichen Art. »Im Herrn« ist dieser Onesimus nun genau so viel wert wie sein Chef, Philemon, und wie Paulus selbst. Er, der Sklave war, ist in Christus frei geworden – und Philemon soll sich wie der gefangene Paulus als Sklave Jesu Christi begreifen. Die bisherige Abhängigkeit ist im Kern gesprengt. Zwar liegt weiterhin noch die Sklavenstruktur vor, und Paulus rüttelt nicht daran; aber im Kern sind alle gesellschaftlichen Hierarchien umgestürzt. »Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›Einer‹ in Christus«. – so hatte Paulus früher einmal an seine Gemeinde in Galatien geschrieben (Gal 3,28). Freiwilligkeit und gleiche Augenhöhe, tiefe Gemeinsamkeit im Glauben und also im Leben – das ist die christliche Revolution.

Ein Glaube, der die Verhältnisse verändert
Wie zärtlich und achtsam sie geschieht, zeigt Paulus noch durch einen anderen Hinweis: Falls Onesimus seinen Herrn betrogen hat, so will Paulus selbst den Schaden bezahlen und wiedergutmachen. Philemon soll keinerlei finanziellen Schaden haben. Die Ökonomie ist eine Sache, der Glaube eine andere. Je konkreter aber, je liebevoller der Glaube realisiert wird, bittend, werbend und füreinander einstehend – desto mehr verändern sich auch die realen Verhältnisse. Paulus selbst will einen Nutzen davon haben »um des Herrn willen«. Indem er den Onesimus hergibt und wieder seinem Herrn zurückerstattet, hat er, der gefangene Altapostel, mehr Nutzen, als wenn er ihn behielte. »Geben ist nämlich seliger als Nehmen« (Apg 20,35).


Sklaverei im 21. Jahrhundert
Jahrhunderte lang hat es gedauert, bis dieser Spaltpilz des Evangeliums die damalige Sklavengesellschaft wirklich gesprengt hat. Noch im 17. Jahrhundert gab es in Deutschland Leibeigenschaft, erst im 18. Jh. wurde die Sklaverei prinzipiell geächtet und abgeschafft. Solange hat es gedauert, bis die Kraft des Evangeliums die habgierigen und unterdrückerischen Strukturen der Welt aufgebrochen hat.
Und längst sind wir wieder rückfällig. Wir haben gigantische Kindersklaverei in der Welt. Wie viele Billigwaren, die wir hier günstig kaufen können, sind unter brutalen Verhältnissen von Kindern und Erwachsenen erschuftet worden. Wir hören von Arbeitslagern nicht nur in China. Prinzipiell gelten die Menschenrechte, aber wie schmerzlich und böse werden sie unterlaufen. Der ›tollste‹ Beitrag des 20. Jahrhunderts zur Geschichte der Abschaffung der Sklaverei waren die Kindersoldaten in Sierra Leone. Kinder wurden abgerichtet zum Töten, wie erschütternde Augenzeugenberichte aus den USA belegen. Dutzende, ja hunderte von Menschen mussten diese Kinder ermorden, blutig sogar mit Messer und Schwert. Viele der wunderschönen Rosen, die wir hierzulande kaufen können und verschenken, sind unter miesesten Umständen in der Dritten Welt gezogen. Die Frauen, die sie für uns schneiden, tun dies unter dem Einf luss fataler Pestizide, die ihnen Jahrzehnte ihres Lebens rauben und sie früh sterben lassen. Und vielleicht erkennen wir dann, wie sehr wir selbst unter dem Deckmantel der Freiheit und Liberalität versklavt sind, z. B. durch den Konsum.

Sklavenstrukturen aufbrechen
Absurde Welt. Schon im 2. Jahrhundert mussten sich die Christen gegen den Verdacht wehren, sie wollten unter dem Deckmantel religiöser Bekehrung und pastoraler Mission Umsturz und Sklavenemanzipation fördern. Nicht der soziale und politische Umsturz ist unser Auftrag. Je mehr wir aber das Evangelium wirklich ernst nehmen wie der alte Paulus und Philemon und Onesimus, desto schneller brechen alte und neue Sklavenstrukturen zusammen in uns, zwischen uns und um uns. Wer wirklich Christ ist, gerät in Spannung zum gesellschaftlichen Status quo. Als Sklave Christi, seines Herrn, wird er so frei, falsche Verhältnisse zu verändern. Wie der Grashalm im Beton sprengt er verhärtete Strukturen. Christlich ist eine Gemeinde dann, wenn sie dieses Evangelium bezeugt – einladend und bittend; wenn sie Freiheit, Freiwilligkeit und Solidarität verspricht und ermöglicht.

Gotthard Fuchs

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